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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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der ein Sonntag war, klapperten viele Hufe in den Hof. Die Pferde wurden angebunden, die Kutschen blieben draußen vor dem Tor. Säuglinge plärrten, Frauen stellten ihre Körbe auf den Boden und begrüßten sich. Männer trugen die Geschirre in eine Kammer, gaben den Pferden Wasser zum Saufen. Junge Kerle im Stimmbruch riefen sich etwas zu, Bärli sprang hoch und bellte erfreut, Alte husteten und keuchten. Ein Schwung Kinder suchte johlend und hüpfend die Katze, die vor vier Tagen Junge geworfen hatte. Die langen, viel benützten, immer wieder gescheuerten und gewischten Bänke wurden aus der Remise in den großen Wohnraum und in die Küche getragen und neben- und hintereinander aufgereiht. Einer berichtete, dass Ruben Eicher, der weit weg auf dem Katzentalerhof lebte und nach einem Schlaganfall schon lange bettlägerig gewesen war, am vergangenen Donnerstag zum Herrn gerufen worden sei. Ein Pferd, hinter dem ein kleines Mädchen zu nahe vorbeigeschlichen war, schlug aus. Das Kind fiel der Länge nach hin, schlug sich die Stirn und beide Knie blutig, wurde aber sofort von seinem Vater hochgehoben, geküsst und getröstet. Sarah lief mit Tüchern und Binden herbei und schaffte es gerade noch, ihre Tante vom Münsterhof, die jüngste der drei Schwestern ihres Vaters, nach deren Tochter Anna zu fragen, die in den Froschauerhof bei Marnheim geheiratet und vor vier Wochen ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte.
    Zwanzig Erwachsene kamen bei den Hochstettlers zusammen. Genauso viele, wie es zwei Wochen zuvor auf einem anderen Hof gewesen waren. Genau abgezählt. Mehr verbot die kurpfälzische Regierung den Taufgesinnten bei ihren Gottesdiensten. Dass sie fast dreißig Kinder in allen Altersstufen mitgebracht hatten, scherte die Behörden nicht. Die Mädchen ließen sich untereinander kaum unterscheiden. Wie ihre Mütter und Großmütter steckten sie von den Fußknöcheln bis zum Hals in nachthimmel-, pflaumenblauen oder dunkelvioletten Kleidern, je nachdem, wie die Färbung ausgefallen war. Ihre blonden, braunen, glatten, krausen, glänzenden oder fettigen Haare waren sorgsam unter schwarzen Häubchen verborgen. Alle ihre Brüder in den braunen Kniehosen und weißen Hemden trugen Hüte wie die Männer und hatten verbrannte Nacken, weil sie den ganzen Sommer mit ihren Vätern, Onkeln und Vettern auf den Feldern gearbeitet hatten, auch wenn sie erst sieben oder acht Jahre alt waren. Der Bussard, der ausdauernde Kreise über dem Hof zog, hätte sich unter Umständen für einen Moment täuschen lassen und das fleischige Gewimmel unter ihm für große Kaninchen halten können, so sehr glichen sie alle einander.
    Die Jungen ab dem arbeitsfähigen Alter folgten den Männern. Einer nach dem andern zog in den großen Wohnraum ein und nahm auf den Bänken Platz. Mit feierlich geradem Rücken. Erst nach ein paar Stunden durften ihre Schultern durchsacken und ihre geschundenen Rücken sich runden, doch auf keinen Fall am Anfang des Gottesdienstes.
    Vorhänge bauschten sich sauber und weiß in der Zugluft. Der Durchgang zur Küche, wo die Frauen und Mädchen auf ihren Bänken Platz nahmen, war offen. Diejenigen, die Säuglinge hatten, rutschten ganz nach hinten, um ruhig stillen oder das Zweitjüngste, wenn es pressierte, schnell in den Garten tragen zu können. Auch Johanna und Sarah saßen in der letzten Reihe, weil sie zwischendurch den Eintopf umrühren und Feuerholz nachlegen mussten.
    Zum Schluss betrat Jacob Egly, der Älteste, das Haus. Schleichend, dass man seine Schritte kaum hörte, das schmale Gesicht eine ausdruckslose Maske, die Augen halb geschlossen, aber so, dass er trotzdem alles und jeden sah. Unwillkürlich kam in Uris Magen ein flaues Gefühl hoch, und er senkte rasch den Blick. Auch das registrierte Egly. Der Älteste ließ sich Zeit, die Reihen abzuschreiten, jedem, der getauft war, gab er den Bruderkuss auf den Mund. Denen, die noch nicht getauft waren, wünschte er mit sanfter Stimme, »der Herr komme dir zu Hilf«. Dann zog er sich mit dem Prediger und Armendiener in die Räucherkammer zurück, um zu besprechen, wer an diesem Sonntag über was zur Gemeinde sprechen sollte. Die Mütter nutzten diese Minuten, um dem einen oder anderen Kind schnell noch ein Stück Brot in den Mund zu schieben, Windeln zu wechseln oder ein Baby, das im Schoß endlich eingeschlafen war, auf eine Decke am Boden zu betten. Größere wurden von ihren Großmüttern gestreichelt und ermahnt, ihre Ohren und Herzen zu öffnen,

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