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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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bewirtschaftet, jetzt waren sie ausgewiesen worden und mussten das Land mit dem, was sie gerade tragen konnten, verlassen. Mehr wusste er auch nicht. Die geheimen Botschaften zwischen den Täufern fassten sich kurz. Die Kälte kroch ihm bis in die Knie. Seine Hände steckten in den Achselhöhlen. Er musste sie, ohne es zu merken, hineingeschoben haben, um sie aufzuwärmen. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts und niemanden sehen. Die Dunkelheit breitete sich groß und feucht über die Felder und Wiesen, die ersten Sterne glommen um den schwerelosen, abnehmenden Mond herum auf, den Samuel leicht in seine rechte Hand hätte nehmen können.
    Nichtstun war das Kissen des Teufels. König David hätte nie und nimmer so schwer gesündigt und mit Bathseba Ehebruch begangen, wenn er sie nicht gesehen hätte, als er müßig auf seiner Dachterrasse stand. Gott hatte den Menschen zum Arbeiten geschaffen. Samuel stapfte mit den Beinen ein paar Mal fest auf, um sich warm zu machen, und ging dann in den Stall. Natürlich war auch ihm nicht wohl bei der Sache. Aber ihn hatte die Gemeinde nun mal für diese Sache ausgewählt. Auf ihn verließ man sich, und, was in diesem Fall genauso viel zählte, auf die Gleichgültigkeit seines Pachtherrn.
    Nach dem Gebet zusammen mit allen in der Küche ging er in den Pferdestall, zündete zwei Lampen an und begann, Älbli zu striegeln. Ihre Nüstern krochen ihm von Zeit zu Zeit warm über den Rücken, ihre Lippen zupften an seinem Rock. Im Gegenzug schubste er ihren Kopf jedes Mal zärtlich beiseite, bis sie sogar anfing an seinen Haaren zu knabbern. Ein altes Spiel. Seinen Hut hatte er sorglos an einen Haken gehängt. Mit der flachen Hand rieb er ihre Flanke, spürte ihre Wärme und legte für eine Weile sein Gesicht an ihren Leib. Dabei hörte er sich ihr Kosenamen zuflüstern, die er gegenüber Johanna niemals benutzt hätte, so unpassend und ausgedacht waren sie. Älbli hob ein Bein, und die Bewegung schwang in ihn über und durchflutete ihn mit ungestümer Freude. Das Kämmen ihrer Mähne hob er sich immer bis zum Schluss auf. Weil das die Tätigkeit in seinem Leben war, die er am meisten liebte. Bedächtig führte er seine gespreizten Finger in ihr trockenes blondes Haar, teilte es in Strähnen und bearbeitete diese mit einem grobzinkigen Kamm, bis sie seidenglatt schimmerten. Zuerst summte er dabei nur, dann brabbelte er wieder kindische Worte, deren Bedeutung, daran zweifelte er nicht, sein Pferd genau verstand. Jetzt in der Nacht sah und hörte ihn keiner. Sonst war er auf der Hut. Niemand sollte nur auf die Idee kommen, er wollte mit einem aufgeputzten Pferd Stolz und Hochmut zeigen. Erst um Martini im vergangenen Jahr hatte Daniel Stauffer ihm auf die Schulter geklopft und lauter als nötig gesagt:
    »Samuel, weißt du nicht, dass auch für Stuten gilt, wenn es bei Timotheus heißt, dass Weiber sich nicht schmücken sollen. Nicht mit Zöpfen oder Gold oder Perlen oder köstlichem Gewand.«
    Ein Scherz, sicher. Aber nicht ohne ein listiges Aufblitzen in den Augen. Die ganze Gemeinde, die gerade dabei war, sich zu verabschieden, brach in Lachen aus. Auch die Kinder. Samuel blieb nichts anderes übrig, als selbst mitzulachen. Noch lauter. Aber seitdem hatte er aufgehört, in Älblis Mähne und Schweif Zöpfe zu flechten.
    Gegen Mitternacht hörte er endlich vorsichtiges Klopfen. Die beiden sahen verwahrlost aus, abgezehrt und bitter. Sie stanken nach dem fauligem Laub, in dem sie nachts geschlafen hatten, und altem Schweiß. Samuel führte sie hinter sich die schmale Stiege zum Heuboden hoch, wo er ein Lager für sie gerichtet hatte. Er gab ihnen Brot, Käse und Bier und zeigte ihnen die verborgene Klappe, durch die sie bei Gefahr auf die Gartenseite hinunterrutschen und fliehen konnten. Sie wechselten nur einzelne Worte miteinander, das Deutsch der Flüchtlinge klang verstümmelt. Morgen, so bedeutete er ihnen, würde er ihnen genügend Wasser zum Waschen bringen. Der Jüngere der beiden hatte am Oberarm eine offene, stinkende Wunde. Die aber, so vermutete Samuel, gefährlicher aussah, als sie war. Die beiden nickten erschöpft, bedankten sich, doch er war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn wirklich verstanden hatten. Als Samuel auf Zehenspitzen die Stiege hinunterging, sagte er sich, dass das, auf was er sich eingelassen hatte, das einzig Richtige für einen Christenmenschen war. Der Muckentalerhof ruhte unter einem nicht hinterfragten Himmel.
    Frühmorgens am nächsten Tag,

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