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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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weitsichtigem Wirtschaften nachzudenken. Dann sprach Noah ausführlich über die ägyptischen Heuschreckenplagen, die in der Pfalz genauso gut als Mäuseplage kommen konnten. Gegen Mittag, als die Sonne durch die Fenster leuchtende Rechtecke auf die hutlosen, langmähnigen oder gelichteten Köpfe der Männer und Hauben der Frauen warf, erlebten sie, wie die Kinder Israels am Roten Meer ankamen und angesichts der grollenden horizontlosen Wassermassen panisch wurden. Das Volk Gottes wollte lieber in das götzendienerische, aber vertraute Ägypten zurück. Der Kreis schloss sich.
    Noah räusperte sich, leckte sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe, trat vom rechten auf das linke Bein und ging ein wenig in die Knie, die ihm seit ein paar Jahren, besonders wenn es im Herbst feucht wurde, zu schaffen machten. Die Gemeinde schaute gebannt auf ihn.
    »Auch wir sind in alle Welt verstreut worden. Auch wir mussten fliehen und lange mühsame Wanderjahre auf uns nehmen. Das ist ein hartes Schicksal. Die Brüder und Schwestern, die aus der Schweizer Heimat und von ihren Höfen geflohen sind. Kurzum, das beweist, dass wir auserwählt sind wie damals Josefs Nachkommenschaft. Aber …«
    Noah ließ keinen Zweifel daran, dass eben doch nur die ganz Gewissenhaften, die mit den schmucklosen Haken und Ösen, die die sich beim Abendmahl gegenseitig die Füße wuschen, die nie einen Eid schwuren und nie in einem Krieg teilnahmen oder sonst wie einen anderen Menschen angriffen, das neue auserwählte Volk waren. Wenn jeder und jede in diesem Volk dem richtigen, grashalmschmalen Weg folgte, egal wohin der bislang geführt hatte und noch führen würde …
    Noah hob seine Stimme noch einmal und presste mit letzter Kraft die wunderbare Verheißung des Herrn heraus:
    »Ich will euch sammeln aus den Völkern und will euch sammeln aus den Ländern, dahin ihr zerstreut seid.«
    Es war geschafft. Predigen strengte ihn mehr an, als eine Woche in der Werkstatt zu hämmern und zu wuchten. In seinen Knien bohrte mittlerweile ein widerlicher Schmerz. Auch die Zuhörer fühlten sich gebeutelt und ermattet und doch so sauber und gereinigt wie nach einem tagelangen hohen Fieber. Jeder Satz war in sie gedrungen, weil er so ehrlich und bildhaft aus Noahs Mund herausgekommen war, als ob Noah damals mitgeholfen hätte, die Weizenkörner in die Scheunen des Pharao zu schaufeln. Genau so sollte eine gute Predigt sein. Schwer und durstig ging Noah nach eineinhalb Stunden Sprechens zu seiner Bank und zu seinem Platz neben Samuel zurück.
    Sie sangen noch das Scheidelied, und jeder gab dem Armendiener so viel Geld, wie er übrig hatte.
    Johanna füllte Brühe, Rübenschnitze, eingekochtes Weißkraut und gesottenes Fleisch in große Schüsseln, die Sarah und die Mägde zu den zu Tischen umfunktionierten Bänken trugen. Jeder hatte einen eigenen Löffel und eine eigene Gabel dabei. Brüder und Schwestern aßen aus einer Schüssel. Sie hielten das Liebesmahl so wie die frühen Christen, Reiche und Arme an einer Seite. Sarah konnte sich endlich in Ruhe anhören, wie es ihrer Cousine mit dem kleinen Isaak ging, der viel schrie, aber auch viel trank und zwischendurch schon viel herumschaute und nach der Haube seiner Mutter griff. Daniel wippte wieder leicht nach vorne und hinten und hielt Ausschau. Nach Sarahs sommersprossigem Rosengesicht und einem Blick, der sich vielleicht mit seinem kreuzen würde. Was Sarah bemerkte, aber ignorierte. Stattdessen hantierte sie übertrieben geschäftig mit den Tellern, beugte ihren Mund an das Ohr der fast tauben Susanna Egly, schnitt unnötigerweise vor dem Essen schon Käse an, goss Kindern Milch und Most in Gläser, nahm die pummelige Rösli auf den Arm, die schon laufen konnte, aber nicht wollte, küsste sie auf Nasenspitze und Ohren und versuchte versteckt hinter dem kleinen Mädchen Rubens braune Locken an den Männertischen ausfindig zu machen. Im Sommer, nachdem alle Männer zusammen eine neue Scheune auf dem Münsterhof errichtet hatten und nach dem langen anstrengenden Tag von den Frauen bewirtet worden waren, und man ausnahmsweise, weil es so warm war, bis in die Nacht draußen gesessen hatte, hatte Ruben sie, bevor er nach Hause auf den Froschauerhof geritten war, im Dunkeln neben seinem Pferd geküsst.
    Bevor sie mit dem Essen anfingen, stellte Samuel mit wenigen Worten die beiden fremden Brüder, denen er Unterschlupf gewährte, der Gemeinde vor. Egly nickte ihm wohlwollend zu. Jeder wusste, dass sich Samuel

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