Der elektrische Kuss - Roman
zunächst aber ganz weit ihren Mund. Erst im allerletzten Moment bevor der Gottesdienst begann, nahmen die Männer ihre Hüte ab und legten sie sich auf die Knie.
»Singet dem Herrn ein neues Lied, die Gemeinde der Heiligen soll ihn loben.«
Nachdem der Psalm verklungen war, stimmte Samuel, den man vor Jahren zum Vorsänger bestimmt hatte, das Lied an, das ihn von allen im »Ausbund«, dem dicken Buch voller Lieder, die die ersten Täufer im Gefängnis von Passau geschrieben hatten, noch immer am meisten ergriff. Es erzählte die Geschichte der niederländischen Schwester Elisabeth Dirks, die wegen ihres Glaubens vor zweihundert Jahren gefoltert worden war. Langsam und jedes Wort betonend, sang Samuel das Lied vom »Mägdelein von Gliedern zart, lieblich, schön und von guter Art«.
Die Gemeinde folgte ihm mit frisch verliebten, sechsjährig piepsenden, aus vollem Hals warm strömenden, brummigen, keuchenden und solchen von Holzhacken, Kinderkriegen und Rübenziehen müde und schwach gewordenen Stimmen. Samuel ersparte ihnen und sich nichts.
»Die Finger man ihr klemmen tat, dass sie dran solche Schmerzen hätt, dass ihr durch diesen großen Zwang, das Blut zu den Nägeln außer sprang.«
Die Stelle mit dem Blut zog Samuel besonders gern traurig in die Länge. Sie sollten auf ihren sicheren Bänken mit dem Geruch von Sauerkraut und Suppenfleisch in den Nasen ruhig die Qualen der armen Elisabeth unter die Haut bekommen. Die Ratsherren von Leeuwarden hörten nämlich nicht auf, das Mädchen zu quälen, damit sie widerrief oder ihnen zumindest die Namen von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern verriet. Elisabeth bekam schreckliche Angst, schwach zu werden, und flehte Gott um Hilfe an. Da zogen die Gottlosen sie auch noch nackt aus. Doch sie blieb standhaft. Samuel war der Meinung, dass jeder Täufer, egal ob Mann oder Frau, dieses Lied so oft wie möglich singen sollte, um im Fall der Fälle so glaubensfest wie Elisabeth zu sein. Als Belohnung würden sie, wenn Christus wiederkehrte, auch von den Böcken getrennt werden. Samuel legte alle Inbrunst in die letzte Strophe.
»Da sprach sie, ich begehr durch Gott, das zu besiegeln mit dem Tod.«
Die Peiniger waren bloßgestellt. Samuel feuchtete seinen Zeigefinger an, blätterte zwanzig Seiten weiter und stimmte gleich ein neues Lied an.
»Viel strenger muss man streiten und vorsichtiger sein, dann in vorigen Zeiten, sagt er ihn allgemein, darum soll man sich üben täglich in Christi Lehr, einander herzlich lieben, wandeln in Zucht und Ehr.«
Die einzelnen Stimmen verschwammen zu einer einzigen Stimme, zusammengeschnürt von einer trägen, traurigen Melodie, die nicht in Noten aufgeschrieben stand, weil auch die zu viel Schmuck gewesen wären. Praktisch und sparsam wie Täufer waren, benutzten sie für viele Lieder dieselbe Melodie. Gesichter, verwittert vom Heuwenden, andere, die den schönen Madonnen in den Kirchen der Katholiken glichen, wieder andere mit klugen, feldmausblinkenden Augen oder solche mit dünnen weißen Bärten, sie alle rutschten zu einem einzigen Gesicht zusammen. Die Vorhänge blähten sich unentwegt in der Zugluft.
Links neben Samuel drückte sich bärengroß und vertraut Noah Gabler, der wie immer nach seinem Hund stank. Man musste alle Brüder und Schwestern lieben, aber Noah liebte Samuel am meisten. Auf seiner rechten Seite schaukelte Daniel Lapp leicht vor und zurück. Schnell auf den Beinen, sanftmütig, jederzeit zu einem Scherz mit kleinen Kindern und alten Leuten aufgelegt. Am meisten gefiel Samuel, dass der Junge etwas von Pferden verstand. Seine Mutter war eine Schwester von Daniels Großmutter gewesen. Er würde als Schwiegersohn gut passen. Allerdings schaute Sarah den Jungen keinen Augenaufschlag länger als nötig an. Samuel legte ihm kurz die Hand auf den Rücken. Daniel strahlte ihn an und schaukelte, als ob er noch immer auf dem Schoß seiner Mutter sitzen würde. Jetzt sangen sie noch das Lied von den »zwei Wegen«, von denen einer schmal und der andere breit war. Samuel blies seine Stimme mit Absicht kräftig in den Nacken von David Holly, dessen Kopf auf die Brust gesackt war. Wenn David einschlief, würde der Älteste ihn vor der Gemeinde rügen.
Wieder nahezu geräuschlos erhob sich Jacob Egly und stand im Nu da, wo sich die Bänke der Männer von denen der Frauen trennten. Die Wucht seiner Worte entlud sich wie ein Gewitter.
»Ihr lieben Brüder und Schwestern, lasst uns ernstlich bedenken, was wir in unserem
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