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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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vermutet hatte, Gewissheit war? Wieder schaute Sarah von der Arbeit auf.
    »Mutter, geht es dir nicht gut, du bist so blass? Und warum ist überhaupt Bärli …«
    »Mir geht es gut, und du solltest die Stiche noch enger zusammenbringen. Das sieht mir doch sehr nach Schlendrian aus.«
    Johanna erschrak über den scharfen Tonfall ihrer eigenen Stimme, trennte aber dennoch gnadenlos alles, was ihre Tochter in der vergangenen halben Stunde genäht hatte, auf. Stichelte noch einmal, noch feiner, noch akkurater, kaum sichtbar, aber doch so fest und streng, dass Leinen, Wolle und Flachs sich für die nächsten hundert Jahre nicht voneinander lösen würden. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, bis sie alle Farbe verloren. Schweißtropfen perlten von ihrem Nacken langsam und unangenehm den Rücken hinunter ins Mieder, der Gedanke an die bevorstehende Ankunft der Flüchtlinge und die Gefahr, die ihnen damit allen drohte, löste ein Gemisch aus Angst und Trotz in ihr aus. Zum ersten Mal während ihrer Ehe überlegte sie, ob und wie sie sich Samuel widersetzen sollte.
    Nachdem er so viel gepflügt hatte, dass nur noch für zwei Tage Arbeit blieb, zum Hof zurückgekehrt war, die Pferde versorgt und Bärli von seiner Hütte in die Küche geschafft hatte, wusste Samuel nicht so recht, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Uri bekam den Auftrag, den gefundenen Rechen und gleich noch ein Beil, das aus seinem Schaft gerutscht war, zu reparieren. Gedämpft drang das Schwatzen und Lachen der Mägde herüber. Sie hatten Anweisung, gleich nach dem Melken ins Haus zu gehen und auch dort zu bleiben.
    Samuel lehnte sich mit dem Rücken an den Walnussbaum, der in der Mitte des bucklig gepflasterten Hofes wuchs, und schaute zum Stall, von wo die vielfältigsten Laute und Blähgeräusche seiner Tiere zu hören waren. Es hatte in seinem Leben nur ein oder zwei Abende gegeben, an denen das dumpfe Treten ihrer Hufe auf dem Stroh, ihr Aufstöhnen und träger werdendes Schmatzen, das Drücken und Reiben ihrer massigen Körper gegen Holzwände oder das vereinzelte, schlaftrunkene Glucksen der Hühner ihn nicht umfangen und getröstet hatten. Die bevorstehende Nacht kündigte sich schon in der Luft an. Sie führte den Geruch nach verwesendem Herbstlaub aus dem Wald mit sich, nach verkohltem Holz, herb, modrig und getränkt mit der Selbstverständlichkeit des Sterbens.
    Zwischen dem Wohnhaus mit seinen sieben Fenstern im ersten Stock und sechs im Erdgeschoss, hinter denen seine Frau gerade die ersten Lichter anzündete, und der Kornscheune war eine Lücke von immerhin sieben Fuß, die er mit einem Zaun geschlossen hatte. Vielleicht, so überlegte Samuel nicht zum ersten Mal, würde er in diese Lücke irgendwann einmal eine Brennerei bauen. Äpfel und Birnen wuchsen in seinem Garten im Überfluss und konnten gar nicht alle verkocht oder eingebacken werden. Auch wenn die meisten in Scheiben geschnitten, auf Schnüre aufgefädelt und zum Trocknen aufgehängt wurden, konnten noch genügend Früchte an arme Leute verschenkt werden.
    So verging wieder eine halbe Stunde. Samuel stieß sich vom Baum ab und klopfte sich sorgfältig Rindenbrösel und Getier von den Ärmeln. Reinlichkeit bedeutete ihm viel. Auch wenn seine Hosen und sein Rock nur aus grobem Stoff und einheitlich braun waren, weil die Lohe aus Eicheln und Nüssen die preiswerteste war, sparsam und schlicht eben. Schon sein Vater und seine Großväter hatten die Taschen für Geld und Schnäuztuch im Innenfutter gehabt. Samuel ging zum offenen Tor an der vierten Seite des Hofes und blickte nervös in die anwachsende Dämmerung.
    Der Muckentalerhof lag allein und abgesondert. Weit genug außerhalb der Gemarkung des Dorfes, sodass die Hochstettlers unter sich bleiben konnten. Der Fahrweg mit dem dürr gewordenen Grasstreifen in der Mitte schlängelte sich vor Samuels Augen durch Felder und Wiesen in die Welt, in der Eitelkeit und Verschwendung für Chaos sorgten. Kein Mensch, schon gar kein Fremder war zu sehen. Es gab ohnehin kaum Gründe, warum ein Unbekannter den Weg hierher nehmen sollte. Die, die zum Hof kamen, waren in der Regel Brüder und Schwestern, Samuel kannte sie seit seiner Kindheit.
    Wieder starrte Samuel eine halbe Stunde vor sich hin, dieses Mal zum Horizont. Es wurde kälter, und er fror in seinem Rock. Aber eigentlich fror er, weil er sonst nie einfach nur dastand. Zwei würden kommen. Bis vor Kurzem hatten sie noch die Güter des Kardinal Rohan

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