Der elektrische Kuss - Roman
ihn der Anblick an. Verwirrt und erschrocken schlug er das Buch zu. Er atmete stoßweise, musste warten. Aber alles blieb still um ihn herum, nichts hatte sich in den vergangenen fünf, sechs Sekunden verändert. Mit klammen Fingern tastete er sich wieder heran, blätterte, suchte gierig, ja sehnsüchtig zwischen den Seiten nach dem richtigen Spalt. Da war es wieder. Nie in seinem Leben würde er den einen Moment vergessen, in dem er erfasste, dass es sich um ein Tier handeln musste. Aber um was für ein Tier! Samuels Augen krochen langsam über die Seite, er merkte nicht, dass sein Mund ziemlich blöd offen stand. Was war das bloß?
Rücksichtslos verschwand der Mond hinter Wolken und mit ihm das Bild. Samuel blieb nichts anderes übrig, als das Buch zu halten und geduldig, aber mit heftig klopfendem Herzen zu warten. Er überlegte schon, ob er es wagen sollte, eine Lampe zu holen, als, allerdings schwächer als zuvor, das silberne Licht wieder auftauchte und schließlich auch das Blatt beschien. Linien und Schraffierungen verbanden sich, gaben ihm immer neue Rätsel auf.
Um sich besser konzentrieren zu können, ging Samuel in die Hocke und hielt das Buch auf seinen Oberschenkeln. Er starrte und staunte. Zwischen Widerrist und Scheitel maß er einen absonderlichen Unterschied. Während der Rumpf dick und kurz war, streckten sich Hals und Vorderbeine enorm lang. Der Kopf kam ihm auffallend klein vor, mit Augen, die er nicht anders als liebevoll bezeichnen konnte. Dann aber fielen ihm zwischen Stirn und Scheitelbein zwei merkwürdige Zapfen auf, nicht unähnlich dem Rosenstock der Hirsche, aber dann doch wieder ganz anders. Scheinbar nicht gefährlich, aber sehr seltsam. Auf dem Nasenrücken wölbte sich noch einmal ein seltsamer kleiner Höcker. Der Rücken ging schnell abschüssig nach unten, die Hinterbeine waren kürzer als die Vorderbeine. Große eckige Flecken zogen sich über den ganzen Körper des Tieres. War das nur eine Haut oder vielleicht auch ein Fell? Samuel hielt das Bild jetzt eine Handbreit vor seinem Gesicht und atmete es ein.
Er ließ sich viel Zeit. Noch nie hatte er etwas so Wundersames und gleichzeitig Schönes gesehen. Besonders die Flecken, die eine Art unregelmäßiges Muster ergaben, gefielen ihm sehr. Die winzigen Buchstaben am Fuß der Seite entdeckte er erst zum Schluss. Die Schrift war so dünn, dass das Mondlicht sie fast mit dem Papier verschmolz.
»La girafe.« Daneben stand » Jean-Baptiste Oudry « . Der erste, vermutete Samuel, war der Name des Tieres, und der zweite von dem, dem es gehörte. Aber sicher war er sich nicht. Plötzlich schreckte er hoch. Johanna und Sarah würden sich wundern, wo er steckte. Samuel durchfuhr eine Angst, so spitz, wie sie vielleicht Schweine empfanden, kurz bevor sie abgestochen wurden. Er saß hier und schaute sich in einem fremden Buch ein Bild an. Ein Bild, das eines der Geschöpfe Gottes zeigte. Ein besonders wunderliches Geschöpf sogar. Was, wenn das Buch und das Bild ein Frevel waren, weil der Mensch sich keine Bilder machen sollte? Nicht von Gott und nicht von sich selbst und deshalb wahrscheinlich auch nicht von den anderen Geschöpfen. Deshalb waren die Kirchen mit ihren Gemälden und Kreuzen und dem ganzen anderen Plunder ja solch ein Gräuel. Verstieß er gegen die Vorschriften? Ging er geradewegs in die Falle des Teufels und machte sich einer schweren Sünde schuldig? Würde er, wenn es herauskam, dafür gebannt und von der Gemeinde gemieden werden? Andererseits, dachte Samuel und atmete flach, Gott hatte den Menschen, nicht aber die Tiere zu seinem Ebenbild gemacht. Ein gezeichnetes Tier konnte auch der Versuch sein, die schöpferische Allmacht Gottes zu preisen, der in sechs Tagen das gesamte Universum und eben auch so ungewöhnliche Geschöpfe wie la girafe erschaffen hatte. Was stimmte? Wer würde ihm darauf eine Antwort geben können? Zum ersten Mal in seinem Leben war sich Samuel nicht sicher, ob es auf seine Fragen überhaupt eine und dann auch richtige Antwort gab. In seinen Eingeweiden bissen und kauten widersprüchliche Gefühle, Furcht und Scham und gleichzeitig eine lodernde Freude. Gebannt betrachtete er weiter la girafe. Verließ er gerade den grashalmschmalen Weg?
Irgendwie schaffte er später die Stufen vom Heuboden herunter, ohne zu stürzen. Im ganzen Haus war es stockdunkel. Jacob Egly war weit weg. Dass er überhaupt an den Ältesten denken musste, löste neue Schuldgefühle in ihm aus. Wohin also mit dem Buch?
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