Der elektrische Kuss - Roman
Unsicher schaute er sich auf dem Hof um. Am Walnussbaum rauschten die letzten Blätter. Älbli schaute schließlich geduldig und verschwiegen zu, wie Samuel das Buch in einer Kiste tief unter durchgescheuerten und schadhaften Halftern und Geschirren versteckte. Gleich morgen früh, nahm er sich vor, würde er es verbrennen. Später im Bett half ihm Johannas Atem, der so stetig kam wie jede Nacht, etwas ruhiger zu werden. Aber er lag trotzdem noch lange neben ihr wach. Als sein aufgewühlter Geist schließlich endlich in den Schlaf hinüberglitt, sah Samuel gerade noch, wie la girafe den Hals zu ihm herunterbog und ihn nachdenklich betrachtete.
Kapitel 3
B ereits seit einer halben Stunde stocherte Georg von Geispitzheim zwischen seinen rechten unteren Backenzähnen. Eine zähe Faser, wahrscheinlich von der Rehkeule, hing fest und piesackte ihn so, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte. Oder war es ein Stückchen sehniger Fasan? Hatte er nicht auch Schwan in Orangensauce und sautierten Ochsenschwanz gegessen? Auch an die Gäste, die er gestern bewirtet hatte, erinnerte er sich nicht mehr so genau. Umso gegenwärtiger war ihm ein penetrant säuerlicher Geruch, der in seinem Mund festsaß. Für seinen Geschmack roch an diesem Morgen alles um ihn herum etwas zu abgestanden und vergoren. Geispitzheim streckte die Beine weit von sich und rutschte tiefer in den Sessel mit den gedrechselten Beinen und Löwenköpfen an den Armlehnen, auf dem schon sein Vater und dessen Vater ihre Räusche ausgedampft hatten. Wo blieb nur sein Diener Josef? Der vermaledeite Hund wurde immer fauler.
Geispitzheim brütete starr vor sich hin. Bloß nicht den Kopf bewegen! Sonst zündeten die Schmerzensfunken in seinem Kopf. Aber auch das, was in seinem Blickwinkel auftauchte, reichte, um sein Unwohlsein zu steigern. Als hätte man einen Korb Gänseeier geleert, lagen Lichtflecken verstreut auf den schwarzen Eichendielen und störten ihn. Mottenkolonien hatten die in Flandern gewebten Vorhänge mit Falkenjagdszenen, die, als sie in seiner Kindheit aufgehängt worden waren, überaus prächtig gewesen waren, so gründlich zerlöchert, dass es fast keinen Unterschied machte, ob man sie aufzog oder zugezogen ließ. Unterm Tisch erspähte er gräuliche Knochen, die nicht erst von gestern Nacht stammten. Und aus einer Ecke, er vermutete aus der zwischen der eisenbeschlagenen Truhe, die sein Vorfahr im Dreißigjährigen Krieg von Feld zu Feld mitgeschleppt hatte, und dem lachsfarbenen französischen Sofa, wehte ein Geruch herauf, der ihm trotz der Umnebelung seiner Sinne in die Nase stach. Niemand kehrte mehr den Hundekot auf, so war es. Geispitzheim stöhnte und drückte mit seinen Stiefelabsätzen gegen den Boden und schob sich samt Sessel näher an das hinter seinem Rücken erst zögerlich brennende Kaminfeuer. Es war ein kalter Tag.
Wenigstens mein Zahnstocher ist noch aus Elfenbein und in Silber gefasst, sagte er sich, zwirbelte das gute Stück eine Weile zwischen den Fingern und fing erneut an, in den zerklüfteten Tälern seiner Backenzähne zu bohren. Als Charlotte das Zimmer betrat, bekam er ein schiefes Lächeln hin. Weil er aber Angst vor den Schmerzensblitzen hatte, machte er die Augen augenblicklich wieder zu.
»Geht es Ihnen besser, Papachen.«
Charlotte meinte das nicht als Frage, sondern als Aufforderung und ging auch gleich zu den Fenstern und zog die Vorhänge so energisch auf, dass ihr Vater sofort beide Hände auf seinen perückenlosen, nur durch schütteres, eisgraues Haar geschützten Schädel legte. Gleißendes Winterlicht traf sein Gesicht wie eine Klinge.
»Charlotte, Liebling …«
»Wollten Sie nicht unbedingt mit mir etwas bereden, jedenfalls hat mir Josef das gestern bestellt, aber dann kamen ja Ihre Gäste und die Damen aus Kaiserslautern …«
Charlotte lächelte ihren Vater spöttisch an. Vergeblich, er behielt die Augen geschlossen.
»Waren sie denn wenigsten ihr Geld und die Kutsche für den weiten Weg wert?«
Geispitzheim antwortete nur mit einem Brummen, faltete seine Hände jedoch noch enger um seinen Schädel. Charlotte beugte sich über ihren Vater und küsste ihn auf das eine, dann das andere Augenlid.
»Keine Angst, Väterlein, ich quäle Sie nicht weiter. Natürlich werden die Damen jeden Kreuzer wert gewesen sein, wahrscheinlich auch die Unsumme von drei Gulden, aber sie scheinen Ihrer Gesundheit zugesetzt zu haben, oder?«
Die faltigen Lider hoben sich, und träge Reptilienaugen nahmen
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