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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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war der Charlottes nicht unähnlich gewesen, höchstens eine Idee länger. Gleich nach der Rückkehr von seiner großen Reise, die ihn von Mannheim nach London und von dort direkt nach St. Petersburg und wieder zurück nach Mannheim geführt hatte, hatte er um ihre Hand angehalten und noch am selben Tag begonnen, ihr Englisch beizubringen. Ein so liebenswerter, gescheiter junger Mann. In seiner Umgebung fühlte sich auch ihr Vater sofort heiterer. Dass Louis zunehmend fürchtete, seine Zehen könnten zusammenwachsen, hatte Charlotte nicht gestört. Auch nicht, dass er deswegen immer öfter seine Schuhe und Strümpfe auszog, beim Essen oder bei Konzerten, um nachzusehen, ob sich in den Zwischenräumen schon Häutchen bildeten. Sie hatte dann die Idee gehabt, kleine, rund abgeschliffene Steinchen zwischen seine Zehen zu stecken, die das Zusammenwachsen verhinderten. Unendlich erleichtert las ihr Louis daraufhin wochenlang die aberwitzigsten und abgründigsten Theaterstücke eines Engländers vor, dessen Namen sie leider mittlerweile vergessen hatte.
    Aber dann begann ihr Verlobter arabische Stimmen aus seinem Magen zu hören. Bei Tag und bei Nacht plapperten sie. Erst als er selbst diese Sprache nahezu fließend gelernt hatte, herrschte wieder Ruhe. Nur für kurz. Als nächstes machte Louis die Vorstellung, er könnte beim Reden seine Zunge verschlucken, panisch und nahezu stumm. Worunter Charlotte dann doch litt. Als er schließlich im Billardzimmer seines Elternhauses alle Bücher des englischen Dramatikers, die er besaß, aufeinander schichtete, sich daraufstellte, einen Strick um einen Balken wand, seinen Kopf in die Schlinge steckte und den Bücherturm umwarf, weinte sie wochenlang. Tief in ihrem Inneren stimmte sie allerdings zu, dass es für den armen Louis keine stilvollere Lösung gegeben hätte. Mit ihm hatte sie sich während ihrer gesamten Verlobungszeit nie gelangweilt.
    Geispitzheim nickte. Seine Tochter hatte recht. Baron hin oder her. Langeweile war das Schlimmste. Davon konnte er ein Lied singen. Gegen die anzusaufen und zu huren, gab er sich alle erdenkliche Mühe. Leider über die Jahre mit immer weniger Erfolg, wie er sich eingestehen musste. Die Kunststücke der Huren aus Kaiserslautern, mein Gott, eine Stunde animierte Vorfreude, aber dann war er auch schon wieder froh, wenn sie ihre aufgedonnerte, kichernde Geilheit wieder auf die Bank der Mietkutsche quetschten und winkend durch sein Hoftor hinausfuhren. Wenn er ehrlich war, dann hatte er sie die letzten Male nur noch bestellt, weil alle drei famos Karten spielten.
    Für eine Weile saßen Charlotte und Geispitzheim still zusammen da, jeder in seine Gedanken versunken. Hinter ihnen krochen die Flammen über die aufgeschichteten Scheite und pressten nach und nach eine sengende Hitze heraus, die Tochter und Vater an den Sessel fesselte.
    »Lolottchen, soll ich Schwertfegers Antrag auch ablehnen?«
    Unbestechlich saugten sich die kleinen grauen Augen ihres Vaters an ihren fest. Charlotte zögerte mit der Antwort. Ihre Finger kraulten seine Haare beharrlich weiter, so, wie sie es auch gern taten, wenn sie sich in den Ohrlappen eines Jagdhundes oder in dem dunklen Gestrüpp auf Felix’ Brust verfingen. Das verbrennende Holz knackte, und mit dem Aufheulen eines wilden Tieres machte sich das Feuer über ein neues Scheit her. Charlotte war sich nicht sicher, wie weit sie der launigen Großzügigkeit ihres Vaters trauen konnte. Über einen stummelbeinigen Käfer von Baron herzuziehen, war eine amüsante Sache, eine andere, eine unverheiratete Tochter deutlich über zwanzig immer noch bei sich hocken zu haben. Auch wenn ihm ihre Anwesenheit weitgehend gleichgültig war, in guten Stunden sogar aufmunterte, sodass sie sich in letzter Zeit in die Hoffnung verstiegen hatte, er würde sie auch in Zukunft so gewähren lassen wie sie wollte. Ihrer Einschätzung nach hatte es ihn nie gestört, dass sie als Kind, und spätestens seit ihre Mutter zum Fürsten gezogen war, oft stundenlang auf einem Holzstoß im Hof gesessen und Apfelkerne auf die Pflastersteine gespuckt, gelegentlich aber auch einen ganzen Tag und eine Nacht unauffindbar gewesen war. Wenn er nach seiner Tochter gefragt hätte, hätten die Mägde und die Köchin mit den Schultern gezuckt. Aber Charlotte konnte sich nicht vorstellen, dass er je gefragt hatte. Nur wenn er sie zufällig in Fensternischen beim Lesen entdeckte, war sein glasiger Blick ein bisschen schärfer geworden. Für ein paar

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