Der elektrische Kuss - Roman
drehte er sich auf dem Absatz um und machte nicht einmal die Tür hinter sich zu.
Irgendetwas fiel vom Dach. Ein Ziegel vielleicht oder Dreck nur. Aber egal, was es war, es sauste als schwarzes Geschütz quer durch Geispitzheims Blick zu Boden und erschreckte ihn sehr. Aber er wusste gleich, an was es ihn erinnerte. Er krallte seine Hand in den zerrupften Fellmantel seiner Tochter, bis er die Knochen ihrer Schulter spürte. Seit Wochen war er nicht mehr draußen gewesen. Jetzt empfand er die Kälte als eine Wand, gegen die er sich stemmen und die er mit seiner Brust niederdrücken musste, um die paar Schritte über den Hof zu schaffen.
Der Tag war damals genauso glasklar frostig gewesen. In jenem Winter 1709, als der Rhein zwischen Weihnachten und April so zugefroren war, dass man mit Kutschen von einem zum anderen Ufer fahren konnte. Der Frost sprengte Bäume, Hähne verloren ihre Kämme. Und Reisende erzählten, dass in Venedig die Leute auf den Kanälen Schlittschuh liefen. Besonders merkwürdig war, dass der Schnee von 1709 nicht aus Sternenformen wie sonst bestand, sondern aus Säulen und Plättchen geformt war. Das sei die Spucke von Hexen, vermischt mit dem Samen des Teufels, raunten sich die Leute zu, katholische wie lutherische und reformierte. Sein Vater hatte ihm dann erklärt, dass Professoren in Heidelberg diese Kristalle Polarschnee nannten, weil einer von ihnen schon am Hof von St. Petersburg gewesen war und dort von dieser seltsamen Variante der Natur gehört hatte. Geispitzheim nahm sich vor, seine Tochter danach zu fragen. Doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Charlotte würde nur stapelweise Bücher anschleppen und nicht mehr zu reden aufhören. Das löste bei ihm regelmäßig Herzrasen aus.
Jedenfalls hatte er damals trotz der mörderischen Kälte in der Kirche sitzen müssen, wo die Pfarrer in endlosen Litaneien mit der Verderbtheit der Welt abrechneten. Gottesstrafe nannten sie es, dass täglich Hunderte Menschen in Straßengräben oder auch in ihren Zimmern erfroren. Geispitzheim erinnerte sich auch noch genau an die Möbelstücke im Speisesaal und in seinem Schlafzimmer, die wochenlang mit Raureif überzogen waren und kandierten Früchten glichen. Seine Mutter hatte im Hof, genau an der Stelle, wo jetzt ein braunes Pferd und hinter dessen heller Mähne ein Mann warteten, Feuer für die Armen anzünden und Brot verteilen lassen. Die gefrorenen Klumpen mussten allerdings mit einem Beil in Stücke gehackt werden. Trotzdem stecken die zerlumpten Menschen sie sofort in den Mund.
Er war in jenem September zwölf Jahre geworden, und das Rotkehlchen plumpste direkt vor seinen mit Fellen umwickelten Stiefeln in den Schnee. Tot, die schuppigen kleinen Füße starr von sich gestreckt, war es vom Himmel gefallen. Er hatte sich die Handschuhe ausgezogen und mit seinen Fingern, solange bis sie taub wurden, den kleinen Körper befühlt. Die Perlenaugen glänzten noch feucht. Furchtbare Angst ließ ihm das Herz anschwellen, bis es schmerzhaft an seine Brustrippen drückte. Über die Jahre hatte dieser Schmerz zwar nachgelassen, aber nie aufgehört. Wie konnten Vögel einfach so vom Himmel fallen? Eine Frage, über die Georg von Geispitzheim regelmäßig sinnierte.
Nicht lange nach diesem Vorfall sah er zum ersten Mal die ölig braune Lache auf sich zu fließen. Langsame zähe Fluten, in denen er bald knöcheltief watete. Die sich, wenn er Glück hatte, langsam, aber stetig zurückzogen wie Hochwasser nach der Schneeschmelze, dann aber dreckige Ränder in seinem Gehirn hinterließen. Manchmal stieg die Brühe in einer einzigen Nacht schnell und lautlos so hoch, dass sie, wenn er ein paar Schritte machte, an seine Schenkel schwappte. Er hörte dann ohnehin auf zu gehen, es tat ihm nicht gut. Der berühmte Arzt, den seine Eltern kommen ließen, diagnostizierte ein Übermaß an Säften der Melancholie und ließ ihn zweimal pro Woche mit einem kleinen scharfen Messer zur Ader. Das half tatsächlich. Zumindest schwächte ihn der Blutverlust so, dass er stundenlang ohne lähmende Grübeleien schlief.
Später wurde er mit Amalia verheiratet. Wofür er seinen Eltern, Gott hab sie selig, immer noch dankbar war. Amalias Spitzzüngigkeiten leckten die trübe Stimmung weg, sobald die ersten Tropfen aus den Fußböden traten, rechtzeitig bevor sich zu seinen Füßen die ersten gefährlichen Pfützen bildeten. Jetzt war Amalia fort. Seit dreizehn Jahren oder waren es erst zwölf? Geispitzheim erinnerte sich dafür
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