Der elektrische Kuss - Roman
deutlich an den altmodischen, weil kirschroten Seidenumhang, den ihr der Fürst, der damals ja noch Graf gewesen war, in der Kutsche mitgeschickt hatte, die sie abholte. Seitdem zog er sich immer gleich splitternackt aus, wenn es wieder so weit war, und legte sich bereitwillig in die lauwarme Lache. Er ließ seine Schwermut, das Wort Melancholie hatte er von Anfang an nicht gemocht, weil es ihm so romanhaft vorkam, manchmal vier, fünf Monate am Stück in seine Achselhöhlen spülen.
Wieder fiel etwas vom Dach und zerschellte am Boden. Geispitzheim schaute nicht hin, sondern zog nur seinen Bärenfellumhang enger um sich. Es war einer der losen Dachziegel gewesen. Sie fielen vom Geispitzheimschen Dach wie anderswo der Taubendreck. Trotzdem ärgerte sich Charlotte, dass es gerade jetzt vor den Augen dieses Fremden passieren musste. Sie ärgerte sich auch, dass sie überhaupt mit nach draußen gekommen war. Warum hatte dieser Mensch bei so einem wichtigen Gespräch, das sie schon fast zu ihren Gunsten gedreht hatte, stören müssen? Was, wenn sich die Stimmung ihres Vaters wieder verdüsterte und sie doch den Weinhändler aus Mannheim heiraten musste?
Das Pferd wieherte, hob den Kopf, blies dünne weiße Atemwolken aus den Nüstern und tänzelte mit den Hinterfüßen.
Aus der Nähe hatte Charlotte noch nie einen Mann mit Bart gesehen. Rotbraune Locken rieselten ihm auf die Schultern und gingen unter den Ohren nahtlos in ein wolliges Gewölk über, das sein Kinn vollkommen einhüllte, Wangen und Oberlippe aber frei ließ. Ein Vogelnest, dachte sie und lachte. Alberner, als ihr selbst lieb war.
Für einen Augenblick begegnete Charlotte seinem Blick. Er kam ihr nüchtern vor, ohne, was sie verstanden hätte, ein Fünkchen Zorn. Gleich darauf aber wischte eine Art von Herablassung ihr Gesicht, ohne spöttische Abfederung, sondern roh und salzig. Charlotte hatte das Gefühl, als ob dieser Mann tatsächlich durch ihren Mantel, ihr Kleid samt dem Draht- und Fischbeingestänge des Reifrocks und den batistenen Unterrock hindurchsehen konnte und entdeckt hatte, dass sie nur einen Strumpf trug. Den zweiten hatte sie beim Aufstehen nicht gefunden. Genau genommen fand sie den zweiten violetten Strumpf schon seit Wochen nicht. Vielleicht hatte ihn Felix, der immer gern eines ihrer Kleidungsstücke als Talisman behielt, oder er war damals im Bett des sächsischen Grafen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sie hatte noch zwei Paar weiße Strümpfe. Die kratzten allerdings.
Charlotte hob das Kinn und die Nase, wohl wissend dass ihr das nicht stand. Es war das Anwesen ihres Vaters, auch wenn die Ziegel vom Dach fielen, konnte sie dort lachen, so viel und so laut wie sie wollte. Sie suchte Augenkontakt mit dem Fremden, wollte ihn aufspießen, ihn mit ihrem Lächeln traktieren, bis ihm sein Gehabe verging. Doch er streichelte ausdauernd sein Pferd und tat so, als ob sie und ihr Vater Luft wären. Charlottes strumpfloses Bein stach plötzlich vor Kälte, obwohl es unter dem Rockfutter aus Kaninchenfell gut versteckt und vor einer Minute noch warm gewesen war.
»Hochstettler, was gibt es, wie geht es Ihnen?«
Reichlich überrascht musterte Charlotte ihren Vater, als er auf den absonderlichen, von Kopf bis Fuß dunkelbraun gekleideten Fremden zuging und ihm auch noch die Hand reichte.
»Diese kleine Jungstute, sie ist noch keine zwei Jahre alt«, sagte Hochstettler und tätschelte weiter den Hals des Tieres, »möchte ich verkaufen. Und bevor ich sie zum Pferdemarkt nach Heilbronn bringe, biete ich sie Ihnen an.«
Das braune Vogelnest unter seinem Mund wippte beim Sprechen auf und ab. Das ebenmäßige Gesicht darüber wirkte gleichgültig, fast unbeteiligt. Seine Augen konnte Charlotte unter der Hutkrempe nur vermuten, dazwischen sprang aber energisch eine gerade Nase hervor. Dieser absonderlich runde Hut! Sofort sah sie wieder die kleinen Gestalten vor sich, wie sie unter dem Gewitterhimmel unverdrossen Getreide schnitten. Zu denen gehörte er also. Deshalb hatte Josef auch von einem Ketzer gesprochen. Charlotte kniff die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Tatsächlich! Sofort fiel ihr etwas auf, was ihr missfiel, nämlich nichts. Kein getrocknetes Eigelb, kein Flecken vom heute Morgen gelöffelten Brei, keine Abdrücke von hastig abgewischten Händen oder Hundepfoten, nicht einmal ein paar Fussel waren auf seinem Rock oder seiner Hose zu entdecken. Auch seine Schuhe waren auf eine empörende Art sauber. Und noch etwas
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