Der elektrische Kuss - Roman
Sekunden rüttelte ihn Verwunderung wach und er schien sich ernsthaft zu überlegen, was es für ein merkwürdiges braunhaariges Geschöpf war, das in seinem Verhau lebte.
Einmal, aber nur einmal, war er, es musste ungefähr ein Jahr her sein, zu ihr hingegangen und hatte fast scheu seine Hand nach dem Buch ausgestreckt.
»Newtonianismo per le dame« buchstabierte er sorgfältig, zog die Augenbrauen hoch, drehte das Buch so herum, als könnte etwas zwischen den Seiten herausfallen, und gab es schließlich seiner Tochter zurück. Unentschlossen blieb er noch stehen und meinte schließlich:
»Deine Mutter wird befürchten, dass solche Themen deinen Teint verderben.«
Dann pfiff er Rollo, seinen zahmen Wiesel, das unter einen Schrank geflitzt war, fing das Tier erstaunlich schnell mit einer Hand ein, steckte es in die linke Tasche seiner speckigen Weste und schlurfte den Gang weiter in Richtung seines Schlafzimmers.
Manchmal begegneten sie sich wochenlang überhaupt nicht. Geispitzheim mochte keine kranken Leute. Deshalb vergaß er auch seine Tochter, als sie einen ganzen Frühsommer fiebernd mit Lungenentzündung im Bett lag und ihr schönstes Kleid im Tausch dafür gab, dass ihr eine Frau aus dem Dorf täglich den Nachttopf leerte und eine Schüssel Essen brachte. Den eigenen Mägden hatte Geispitzheim verboten, Charlottes Zimmer zu betreten, womöglich hätten sie die Krankheit aufschnappen und ihn anstecken können.
Kurz nach Charlottes vierzehntem Geburtstag, zu dem Geispitzheim das größte Feuerwerk, das es je in der Gegend gegeben hatte, abbrennen ließ, quartierte sich Ludmilla Benoit bei ihm ein und bestellte umgehend in der Manufaktur Boule ein sündhaft teures Sofa, das in der Farbe von frischem Lachs überzogen wurde. Tatsächlich hieß sie, wie Charlotte von einem Scherenschleifer erfuhr, Klara Möckel, stammte aus Obermoschel und war nach zwei Spielzeiten am Mannheimer Hoftheater hinausgeworfen worden. Madame stopfte bei den Mahlzeiten gern große Stücke Leberpastete, die Verzierungen der Marzipantorten oder auch einfach nur Radieschen tief in die Hosen der männlichen Gäste und angelte sie von dort wieder mit Zähnen und Zunge heraus. Nach der zweiten Vorführung gab Geispitzheim Anweisung, seiner Tochter das Essen in der Küche im Gewölbekeller zu servieren. Charlotte kam das zupass. Sie konnte dort ungehindert mit Feuer, siedendem Wasser und Dampf experimentieren, solange sie nicht verriet, dass die Mägde und Knechte ganze Schweinshaxen und Hasenschlegel unter der Hand verkauften. Ludmilla Benoit war eines Tages wieder ausgezogen, hatte das lachsfarbene Sofa unter Tränen zurückgelassen, dafür Geispitzheim vor der Dienerschaft eine Ohrfeige gegeben. Charlotte zog es vor, weiter in der Küche zu essen.
Die Hitze vom Kaminfeuer brannte auf ihrem Gesicht. Ihr Vater schien eingeschlafen zu sein. Natürlich hätte sie ihm am liebsten einen Kuss auf die Wange geknallt und gesagt, dass er doch bitte, bitte und auf jeden Fall den Antrag ablehnen solle, dass sie keinen alten Krämer wolle, egal wie reich er war. Dass sie eigentlich auch keinen jungen und am liebsten überhaupt nicht heiraten wolle. Dazu fehle ihr im Übrigen die Zeit. Demnächst komme die Elektrisiermaschine aus Leipzig, für die sie immerhin schon eine Anzahlung geleistet habe, und dann müsse sie Tag und Nacht experimentieren.
Aber es war so eine Sache mit ihrem Vater. Charlotte stöhnte kaum hörbar. Von einem Moment zum anderen konnte seine Schläfrigkeit umschlagen und sich ins Gegenteil verkehren. Sie hatte schon gesehen, wie er seinen Lieblingshund getreten hatte. Und einmal war sie gerade um die Ecke gebogen, als er den kleinen Rollo, der vom selben Teller fressen durfte wie er, aus einem Wutanfall heraus gegen die Wand warf. Das zierliche Tier war wie ein Lumpen auf den Boden gesackt, hatte sich leise quiekend eingerollt und sich dann stundenlang nicht mehr bewegt. Bis ihr Vater sich zu ihm hinkniete, ihm Hackfleisch verrührt mit zwei Eigelb vor die Schnauze legte und so lange lockend pfiff, bis Rollo wieder ins Leben zurückkam.
Charlotte war gerade dabei, ihre Worte genau abzuwägen, als die Tür aufgerissen wurde.
»Dieser Ketzer will Sie sprechen. Er steht im Hof bei seinem Pferd.«
Josef spuckte die Sätze ins Zimmer. Abscheu lag wie eine angebrannte Linsensuppe auf seinem mit Pockennarben und Altersflecken überzogenen Gesicht. Höflichkeiten gegenüber seinen Herrschaften hatte er sich abgewöhnt. Deshalb
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