Der elektrische Kuss - Roman
irritierte sie. Nirgendwo hatte dieser Mensch Taschen, Aufschläge, Manschetten … nicht einmal Knöpfe! Josef und ihre katholische Mannheimer Großmutter würden bei diesem Anblick schnell einen Rosenkranz herunterflüstern. Die alte Mina, die die Amme ihres Vaters gewesen war und bis zur ihrem Tod in einer Dachkammer gewohnt hatte, hätte, so überlegte Charlotte, wahrscheinlich sogar zwei Besen geholt und sie über Kreuz gestellt, um sich vor den dunklen Kräften der Hexerei zu schützen.
Charlotte blieb stehen, als ihr Vater zu dem Pferd ging, dessen Maul öffnete und sich viel Zeit ließ, um die Zähne zu prüfen. Er schien zufrieden. Schließlich hob er ein Bein nach dem anderen und begutachtete Fesseln und Hufe. Der Mann, so schätzte sie, war Ende dreißig. Spuren von Schlägereien oder Suff, die sich in Gesichter vieler Bauern eingekerbt hatten, sah sie nicht. Er war nicht sehr groß, aber stand aufrecht und breit in den Schultern da, sodass er größer wirkte. Bei einem Elektriker wäre sie sich sicher gewesen, dass er sich zur Isolierung auf eine gläserne Unterlage gestellt habe, um den gefährlichen Fluss des Fluidums zu stoppen. So zirkelscharf gezogen und vorsätzlich kam ihr die Distanz vor, die er zu ihrem Vater und ihr hielt. Es war unübersehbar, dass er trotz seines Anliegens nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Was Charlotte absurd und auch dumm fand, schließlich war er nur ein Pächter.
»Sie kommt mir etwas nervös vor«, sagte Geispitzheim schließlich und zupfte an der Mähne des Tieres. Tatsächlich hatte Hochstettler Mühe, seine Stute zu halten. Immer wieder riss sie ihren Hals hoch und trommelte mit den Hinterhufen.
»Die ungewohnte Umgebung«, antwortete Hochstettler tonlos und blickte nach wie vor nur seinem Pferd ins Gesicht.
»Müssen Sie verkaufen?«
»Nicht zwingend.«
Der Fremde biss sich auf die Lippen.
»Aber?«, hakte Geispitzheim sofort nach.
»Ich brauche mehr Kleesamen, und den gibt es nur teuer aus Holland.«
»Klee? Wozu?«
Charlotte hörte einen wachen Unterton in der gewohnheitsmäßig müden Stimme ihres Vaters.
»Klee gibt dem Boden Kraft zurück. Man kann schon gleich im Jahr darauf Weizen anbauen.«
Ein kalter Windstoß verfing sich im Hof, ließ einen weiteren Dachziegel klirrend zerspringen, wirbelte herumliegendes Heu auf und Staub in die Augen und zerrte an Charlottes nachlässig hochgestecktem Haar. Lange Strähnen wehten mutwillig hoch. Eine Weile kümmerte sie sich nicht darum, es gab so viel zu beobachten. Schließlich beugte sie doch den Kopf, schüttelte ihr Haar durch, warf den Kopf nach hinten und ordnete so gut es ging mit beiden Händen ihre Haare. Die Augen des Fremden und sein Mund standen schreckensweit offen. Was war passiert? Hatte er Schmerzen oder Angst?
Charlotte hätte viel darum gegeben zu erfahren, was gerade in dem Kopf dieses seltsamen Menschen vor sich ging. Doch genauso schnell, wie Hochstettler aus seiner hochmütigen Gelassenheit gefallen war, fing er sich auch wieder. Nur dass er jetzt nicht einmal mehr sein Pferd anschaute, sondern einen Punkt irgendwo an der Mauer fixierte.
»Ist die Stute denn überhaupt eingeritten?«, fragte Geispitzheim, der das Interesse an dem Klee schon wieder verloren hatte.
»Ja.«
»Meine Tochter«, sagte Geispitzheim laut und neigte den Kopf schräg in Charlottes Richtung, »meine Tochter will den reichsten Weinhändler der Pfalz, einen Herrn aus Mannheim, dessen Namen ich mir ums Verrecken nicht merken kann, nicht heiraten. Was meinen Sie, Hochstettler, soll ich sie dazu zwingen?«
Geispitzheim grinste schief. Dieses Spiel schien ihm Spaß zu machen. Prompt lief Hochstettler rot an. Seine Zunge fuhr über die Lippen und berührte auf komische Weise die Ränder des Vogelnests. Endlich, frohlockte Charlotte, bekam seine porzellanglatte Arroganz Sprünge. Das faszinierte Charlotte mehr als seine wie auch immer geartete Antwort auf die Frage ihre Vaters. Doch der Pächter blieb stumm. Er presste seine Lippen aufeinander, als wollte er seine Zähne für immer verstecken, und das rotbraune Gewölk darunter war wie ein Verschlag. Charlotte hatte sogar den Eindruck, als ob er seine Augen absichtlich unter dem Hutrand verschwinden ließ. Ihr Vater wartete überraschend lange und streichelte dabei Rollo. Schließlich fragte er mit gefährlich sanfter Stimme nach:
»Können Sie mir keinen Rat geben oder wollen Sie nicht?«
Gleich würde der Bärtige sein Pferd am Zügel nehmen, uns vor die
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