Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
Füße spucken und seines Weges gehen, ging es Charlotte durch den Kopf. Schon glaubte sie seine ersten Bewegungen zu spüren. Gleich. Dass er nichts dergleichen tat, erhöhte ihre Spannung. Durchreisende Schauspielertrupps führten im Kirchheimer Schloss manchmal derbe italienische Schwänke auf, und Madame Benoit hatte, wenn sie guter Laune gewesen war, Szenen von Molière deklamiert. Aber so einer pikanten Szene, in der überhaupt nicht klar war, ob sich die Spieler beim nächsten Satz noch an einen Text halten und die richtigen Positionen auf der Bühne einnehmen würden, hatte Charlotte noch nie zugeschaut. Sie wollte unbedingt wissen, wie es ausging. Obwohl ihr nicht sonderlich wohl dabei war, besonders wegen der Art und Weise, in der der Pächter auftrat. Sein rechter Fuß schob sich etwas vor. Sie folgerte, dass er sein Gewicht auf den linken verlagerte, also endlich doch seine anmaßende Beherrschung kippte, und ließ ihn nicht aus den Augen. Nichts wäre Charlotte jetzt entgangen. Nicht einmal, wenn er nur seinen kleinen Finger gekrümmt hätte.
    »Hochstettler, Sie sind mir eine Antwort schuldig!«
    Der Pächter würde sich nicht wie ein ungehorsames Wiesel gegen die Wand schleudern lassen, das war Charlotte inzwischen klar. Im Gegenteil. Der Waldschrat schien es darauf angelegt zu haben, ihren Vater zu demütigen. Oder wie sollte man sein stures Verhalten sonst interpretieren? Er war ein Ketzer, hatte Josef gesagt. Was auch immer das genau sein mochte, auf jeden Fall aufrührerisch gegen die Obrigkeit, und die war in diesem Fall ihr Vater. Charlotte spielte mit dem Gedanken, den Pächter beim Fürsten vorführen und ihm im roten Festsaal direkt unter den Fresken der vier Tugenden von einem Lakaien den Bart abrasieren zu lassen. Das wäre ein Spektakel, bei dem es allen kalt den Rücken runterlaufen würde. Weil der Fürst Toleranz inzwischen zwar neuerdings modern fand, andererseits aber so viel provokante Dumpfheit schon um des Fortschritts wegen eliminieren musste. Felix würde, so malte Charlotte es sich aus, zuschauen, am Champagnerglas nippen und der Mätresse des Fürsten mit gekräuselten Lippen zulächeln, weil das seine Pflicht war. Später mit ihr im Bett würde er etwas über die Tyrannei und den geschundenen Untertanen stammeln und davon, dass es so etwas wie die Unverletzlichkeit der Menschenwürde gebe und der Bart vielleicht ein Symbol des Aufstandes sei, man es nur noch nicht überall wisse, jedenfalls nicht in der Kurpfalz und schon gar nicht in Kirchheim. Charlotte würde ihn dann wieder einmal beruhigen müssen wie ein Kind, das tagsüber schrecklich gern von Gespenstern erzählt, nachts aber vor Angst zittert, wenn das Mondlicht über die Bettdecke wandert.
    Was aber würde passieren, wenn man diesen abstrusen, überflüssigen Bart nicht einseifen und abschaben, sondern stattdessen elektrisieren würde? Diese Idee erzeugte so viele Bilder in ihrem Kopf, dass sie den Mann, ihren Vater und die gesamte angespannte Situation vergaß.
    »Eine gute Tochter muss man zu nichts zwingen, sie unterwirft sich immer den Wünschen ihres Vaters.«
    Hochstettler sprach nicht laut. Aber artikulierte seine Worte so penibel, wie ein Kunstschreiner kleine Perlmuttstücke akkurat aussägt, um sie später in eine Kommodenplatte einzusetzen. Einmal in die Welt gesetzt, rannte jedes dieser Worte dreist und anmaßend zwischen verrosteten Bottichen und fliegenden Heubüscheln herum. Charlotte hörte, wie ihr Vater schnaufte. Es war plötzlich so entsetzlich still um sie herum. Warum fiel jetzt keiner dieser verdammten Ziegel vom Dach? Charlotte musste auch wieder an den zweiten lila Strumpf denken, der ihr fehlte und ihr linkes Bein frieren ließ. Sogar das Pferd schien zu ahnen, dass Unheil in der Luft lag, und stand auf einmal ganz still da.
    Geispitzheims Blick wanderte hinauf und über die schadhaften Dächer und Fassaden seines Anwesens. Hie und da hing ein Fensterladen aus den Angeln, an manchen Stellen war der Putz so weit herausgebrochen, dass man die Steine sehen konnte, die die Leibeigenen seiner Vorfahren aufgeschichtet hatten. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Denn er wollte siegen. Dieses eine Mal unbedingt. Obwohl er Gott weiß nichts gegen Hochstettler hatte, der Mann zahlte seine Pacht immer pünktlich und hielt den Hof besser in Schuss als jeder andere Pächter zwischen Mainz und Kaiserslautern. Aber wenn er jetzt das kleine Körnchen Esprit, das er in sich trug, verriet, dann blieb ihm

Weitere Kostenlose Bücher