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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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war wieder nur das leise Plätschern eines Baches zu hören. Charlotte saß ab und ging vorsichtig zu Fuß näher. Der Anblick dieses Hofes tat ihr unerklärlich gut. Er schwemmte Bilder in ihr hoch, und Erinnerungen blitzten auf, verschwanden und vermischten sich mit dem, was sie tatsächlich sah; das strenge weißbraune Muster des Fachwerks und über dem großen Tor zur Straßenseite ein nach unten durchhängendes Geschoss. Sie dachte sich, dass sie schon einmal hier gewesen sein musste. Oder hatte man ihr nur von einem sanften Ort wie diesem erzählt.
    Charlotte ließ zu, dass Madeira sie durchs Hoftor zog, erschrak aber, wie laut die Hufe auf den Buckelsteinen der Pflasterung aufschlugen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als ob jemand sie an der Schulter antippte und ihr die Lösung des Rätsels ins Ohr rief: Es ist der Pächterhof, der Täuferhof. Madeira erkannte ihr früheres Zuhause. Charlotte hielt sich am Halfter fest und fühlte sich wie eine ordinäre Diebin. Ein Hund streckte den Kopf aus seiner Hütte, beäugte sie, hob die Lefzen, damit sie seine Zähne sah, und knurrte. Dann erkannte er anscheinend Madeira an ihrem Geruch und legte seinen Kopf beruhigt auf die Pfoten, behielt Charlotte aber im Auge. Sie blieb wie angewurzelt stehen, dafür wanderte ihr Blick alles ab. An der Wand des Wohnhauses, das dem Tor direkt gegenüberlag, spreizte sich ein Pfirsichbaum an einem Holzspalier hoch, übersät mit unzähligen rosa Blüten. Charlotte fürchtete, dass ihr Atem die hauchdünnen Blätter zum Zittern bringen würde, und versuchte, ihn anzuhalten. Tatsächlich löste sich, während Charlotte zuschaute, ein Blütenblatt nach dem anderen ab. Sie rieselten ohne Eile und blieben auf dem Holzgestänge liegen oder dort, wo Astgabeln kleine Liegemulden bildeten. Dort hinein hätte sich Charlotte auch gern gelegt.
    Aus der Tiefe des Wohnhauses tönten die Stimme einer Frau und dann noch eine jüngere, ebenfalls weibliche Stimme. Charlotte fühlte sich augenblicklich weniger wohl. Dabei war es unwahrscheinlich, dass sie gesehen worden war. Eilig ging sie rückwärts aus dem Hof und zog ihr widerstrebendes Pferd mit sich. Ihr war heiß und ein wenig schwindlig, gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie sich für etwas schuldig fühlte, was ihr zustand. Das war schließlich der Pachthof ihres Vaters und würde eines Tages ihr gehören. Mit hängenden Armen und unschlüssig stand Charlotte auf dem neutralen Gebiet der Landstraße. Die Mittagsstille drückte wie ein mit Daunen gefülltes Kissen herunter. Selbst die Hühner ließen sich nicht mehr blicken. Aufsitzen, heimreiten, einen Boten nach Kirchheim ins Schloss schicken, um die Kutsche bitten, die Haare aufstecken und pudern, ein Schönheitspflaster der Marke kastilische Nacht auflegen, das Mieder eng schnüren lassen, damit der Busen herausquoll, mit dem Fürsten schäkern, die Mutter für ihre immerwährende Courage bewundern, mit Felix schlafen, nochmals ihre Aufzeichnungen zum Gewitterexperiment studieren, zum wiederholten Mal die Theorie Dufays zu den beiden unterschiedlichen Elektrizitäten durchackern? Oder Madeira an einen Baum anbinden und sich selbst an einem Südhang in die Sonne legen, auch wenn das den Teint verdarb? Es war eine Qual, sich immer entscheiden zu müssen.
    Charlotte schlich sich rechts an der Vorderfront des Hofes entlang, bog an der Ecke nach links und stapfte durch sumpfige, schmierige Erde die Hinterseite der Stallungen entlang. Bis hier Gras wuchs, brauchte es noch ein paar warme Wochen. Süßsäuerlicher Geruch, in dem sich die Ausdünstungen von Kühen, Pferden, Schweinen und Ziegen mischten, hüllte sie ein. In den kleinen Stallfenstern steckten Glasscheiben, die sogar geputzt waren. Charlotte war noch dabei, sich darüber zu wundern, als plötzlich ein rahmweißes Etwas aus einer geöffneten Luke heraus- und über sie und Madeira hinwegschoss. Eine Schwalbe. Die erste, die sie in diesem Jahr sah. Für einen Moment verschwand der Vogel hinter dem Stalldach, kam aber gleich wieder in einem weiten Bogen zurück. Jetzt blitzte sein schwarzer Rücken wie ein Metall auf, das es in der Kurpfalz nicht gab und das, da war sich Charlotte ziemlich sicher, auch bislang noch nirgendwo gefunden worden war. Mit den Fingerkuppen ihrer linken Hand strich sie den Putz entlang. Körnig, trocken, vom Stall gewärmt prägte er sich ihr ein. Wie ein kleines Mädchen zog sie eine krumme, unsichtbare Linie die ganze Wand entlang, bis sie aufhörte,

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