Der elektrische Kuss - Roman
entzückendes Gesicht. Nicht einmal genäht hatte sie. Jedenfalls fiel Charlotte auf, dass der blassblaue Stoff noch genauso gefaltet war, wie Sarah ihn vor ihrem gestrigen Spaziergang hingelegt hatte.
In stillschweigender Übereinkunft gingen sie nun jeden Tag denselben Weg. Hintereinander am Bach entlang, bis zu dem Zelt, dessen Dach von Tag zu Tag grüner und dichter wurde. Niemand außer Sarah schien dieses Versteck zu kennen. Sie erzählte ununterbrochen, als ob sie den ganzen Winter nicht dazu gekommen wäre. Von ihren Freundinnen, dem Hund Bärli, der Katze und ihren Jungen und dann auch von einem gewissen Ruben, flüsternd schließlich, dass sie ihn furchtbar gern heiraten würde und hoffe, dass die Eltern, wenn das zweite Kind auf der Welt sei, sie aus dem Haus gehen lassen würden. Sie habe sogar belauscht, verriet sie Charlotte, wie der Gemeindeälteste ihrem Vater vorgehalten habe, dass es nicht gut sei, Mädchen nach der Taufe lange unverheiratet zu lassen. Sie kämen dann nur auf unfromme Ideen. Sarah verdrehte die Augen und brach in helles Gelächter aus.
Charlotte bemühte sich, ernsthaft zuzuhören, nickte zwischendurch zustimmend und schleuderte schließlich, um das Lachen, das in ihr hochkroch, abzuwürgen, mit voller Wucht einen Stein ins Wasser. Sarah zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um. Sonst warfen sie nur Schlüsselblumen in den Bach und schickten sie als geheime Botschaften auf Reisen. Doch auch bei diesem lautlosen Vergnügen hatte Charlotte schon beobachtet, dass das Mädchen an ihrer Seite von Zeit zu Zeit nervös die Nase hob. Ihre Augenlider flatterten dann wie ein Kohlweißling auf einem Stängel Wiesenschaumkraut. Ihre gemeinsame Zeit war immer knapp, aber seltsamerweise manchmal länger und manchmal kürzer. Sarah schien es mit der Luft und dem Blütenstaub einzuatmen, wann sie nach Hause zu ihrer Mutter gehen musste.
»Für dich«, sagte Charlotte und zog an einem der nächsten Tage aus den Tiefen ihres Unterrocks ein Paar Pantoffeln heraus und legte sie vor Sarah in ein raschelndes braunes Kissen aus fast schon skelettierten Blättern.
»Die gleichen waren vor drei Monaten im › Mercure de France ‹ abgebildet, weil auch die Marquise von …«
Sarahs Redseligkeit nahm durch das Geschenk ein jähes Ende. Mit feierlichem Ernst nahm sie die Schuhe, drehte und betrachtete sie stumm und überwältigt. Schließlich öffnete sie die Schließen ihrer eigenen schweren Schuhe, zog sie aus und rollte schwarze Wollstrümpfe die Waden herunter. Ihre Füße waren klein und perlmuttfarben. Die Zehen krümmten sich wie lichtscheue Schalentiere, die einem fernen Meer entwichen waren und es mühsam an Land geschafft hatten, in den bröselnden Blattteppich. Wäre ich ein Mann, schoss es Charlotte durch den Kopf, dann würde ich mich augenblicklich wegen ihrer Zehen in sie verlieben. Die Farbe der Pantoffeln, Pistaziengrün, hatte Charlotte auf die Idee gebracht, sie Sarah zu schenken, als sie sie verwaist in einem der Zimmer ihrer Mutter hatte herumliegen sehen. Das Besondere war, dass ihre Kappen mit einer japanischen Szenerie bestickt waren. Mit etwas Mühe konnte man erkennen, dass eine Dame im Kimono Tee in eine Schale goss.
Charlotte tippte mit dem Finger diese Dame an und erklärte: »Das ist jetzt sehr modern. Meine Mutter möchte unbedingt, dass der Fürst ihr im Schlosspark einen Pavillon im japanischen Stil baut, aber Vasen und Möbel aus Japan zu importieren ist schrecklich teuer.«
Sarah nickte, als ob sie genau wüsste, um was es ging. Dann überlegte sie länger, bis sie zögerlich fragte:
»Ist Japan dort, wo unser Herr Heiland geboren wurde?«
»Nein, ganz woanders, aber ich könnte dir mal ein Buch mit einer Weltkarte mitbringen und es dir zeigen.«
Sarah biss sich auf die Unterlippe.
»Vielleicht.«
Sonst sagte Sarah nichts mehr, sondern streichelte so hingebungsvoll, wie sie es schon bei Charlottes Rock gemacht hatte, über die feinen Pantoffeln aus Lyoner Seide, die im hüpfenden Baumschatten wie die Panzer großer Käfer schimmerten. Als es so weit war, dass sie gehen musste, zog sie die Pantoffeln aus und hielt sie Charlotte mit einem trotzigen Kindergesicht hin.
Charlotte hob abwehrend die Hände.
»Sie gehören jetzt dir, ich habe sie dir doch geschenkt.«
Sarah sah auf ihr dunkles Kleid hinunter, das Hals und Arme bedeckte, und antwortete mit einem Lächeln, das, was Charlotte nie vermutet hätte, tatsächlich einen Anflug von Ironie
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