Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
dieser schimmernde Klumpen, in dem seit ewigen Zeiten vielbeinige Insekten eingeschlossen waren. Charlotte hatte allerdings keine Ahnung, was man zu einem Wesen sagte, das ein paar Jahre jünger war als sie selbst, aber am helllichten Tag grauenhafte Nonnenkleidung trug und seine Haare vermutlich angesengt hatte und deshalb verstecken musste. Sie versuchte es mit dem Simpelsten.
    »Ich heiße Charlotte, Charlotte von Geispitzheim.«
    »Und ich bin Sarah … soll ich herauskommen?«
    Ein Stuhl rückte, Stoff raschelte, und schon öffnete sich die Gartentür des Hauses und das Mädchen stand vor ihr. Ganz selbstverständlich übernahm es die Führung. Dabei wanderte ihr Blick immer wieder über Charlottes raschelndes pistaziengrünes Kleid. Da das Mädchen genau zu wissen schien, wohin sie wollte, war Charlotte nicht besonders überrascht, als sie nach einer Viertelstunde Fußweg am Bach entlang zu einer Stelle kamen, die offensichtlich das Ziel war. Eine verfallene Holzhütte schirmte sie zur Wiesenseite ab, und auf der Seite des Baches bildeten Erlen und Weiden auch ohne Laub ein geräumiges und schützendes Zelt. Seufzend setzte sich Sarah auf einen Baumstumpf, wickelte Grashalme um ihren Zeigefinger und schaute Charlotte so froh und erwartungsvoll an, als wolle sie ihr sagen, dass dieser Besuch längst überfällig sei. Charlotte fragte sie, was sie denn sticke. Worauf das Mädchen anfing, ohne Punkt und Komma zu erzählen. Davon, dass es sich bei der Daunendecke um den wichtigsten Teil ihrer Aussteuer handele. Dass es schrecklich viel Arbeit sei, besonders weil die Mutter winzige akkurate Nähte verlange, ihr aber nicht mehr helfen könne, weil sie ein Kind erwarte und ihr das gebeugte Sitzen Schmerzen bereitete. Alle Scheu fiel von ihr ab und sie zwitscherte wie ein Vogel.
    »Ein Kind«, sagte verwundert Charlotte zwischendurch und wollte weiter wissen: »Ist sie denn deine richtige Mutter?«
    »Ja, aber sie ist nach mir nicht mehr schwanger geworden. Bis jetzt.« Sarah flüsterte fast, als wollte sie sich für ein Versagen ihrer Mutter entschuldigen.
    Dann schwieg sie abrupt und hörte konzentriert dem Bach zu. Auch Charlotte fing an, sich Grashalme um die Finger zu wickeln. Vögel flogen durch die Äste in das Zelt hinein, suchten im Uferschlamm nach Würmern, zankten sich, beäugten die beiden, benetzten ihr Gefieder und flogen wieder fort. Auf einmal streckte Sarah eine Hand aus, der anzusehen war, dass sie nicht nur Nähnadeln, sondern auch Rechen und Putzlappen gebrauchte, und berührte Charlottes Schoß. Charlotte hörte, wie die Seide ihres Rockes unter den rauen Fingern des Mädchens schabte. Sarah streichelte andächtig weiter und schien sich dabei kaum atmen zu trauen.
    »Gefällt es dir?«
    »Sehr, ich habe so einen Stoff noch nie angefasst, und die Farbe ist wie, wie …« Sarah verstummte und suchte nach Worten. Wie konnte es auch richtige Worte für etwas geben, das so zart grün glänzte wie allenfalls eine frisch geregnete Wasserpfütze im Mai, in die die Sonne schien und die sich im Wind kräuselte. Aber war es gottgefällig, dass der Mensch solche Aufmerksamkeit auf sich lenkte? Oder war das nicht eher die List des Teufels. Sarah hörte viele Stimme durcheinander, die das sagten, die ihrer Mutter, ihres Vaters, der Tante vom Münsterhof, vor allem die von Jacob Egly, dem Ältesten. Dass sich diese Charlotte eitel herausputzte, war unübersehbar. Sarah zog ihre Hand zurück, stand auf, strich ihr hartes dunkellila Gewand aus, damit kein Blattkrümel, keine Raupe hängen blieb, und ging mit Charlotte im Schlepptau den Trampelpfad am Bach zurück. Die zusammengezogenen Brauen des Mädchens ließen Charlotte vermuten, dass es sich wegen etwas Sorgen machte. Am Gartentor verabschiedete Sarah sich flüchtig.
    Über Mittag, so kombinierte Charlotte, verrichtete Sarahs Mutter Hausarbeit. Hochstettler, die Knechte und Mägde arbeiteten dagegen draußen auf den Feldern. Es war ja, so viel wusste auch sie, die Zeit zum Pflügen und Säen. Und wenn Hochstettler dann noch den Kleesamen, den er mit dem Geld für Madeira wohl inzwischen gekauft hatte, in die Erde bringen wollte, dann hatte er genug zu tun. Also ritt Charlotte am nächsten Tag wieder genau zur Mittagszeit zum Hof der Ketzer. Dieses Mal ging sie gleich über den Garten zur Rückseite des Hauses. Sarah schien schon zu warten, jedenfalls sah Charlotte, als sie durchs Fenster schaute, nicht ihren Rücken und Nacken, sondern gleich ihr

Weitere Kostenlose Bücher