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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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blauen Funken gesehen, die an den Spitzen des Drachens getanzt hatten. Blitze zündeten Scheunen und Kirchtürme an. Aus Funken entfachten die Mägde das Herdfeuer. Ließen sich mit Elektrizität Gegenstände in Brand setzen? Über solch eine Beobachtung hatte sie bislang nichts gelesen. Vielleicht wusste ja Manteuffel mehr? Je länger sie aber neben Madeira hertrottete, umso mehr Zweifel an ihrer Hypothese kamen ihr. Blitze sausten in großen Bögen und nicht gerade zur Erde, aus ihnen sprangen viele Seitenarme heraus, und der Donner, der folgte, war laut und scharf. Noch dazu roch es schwefelig. All diese Phänomene fehlten bei der künstlich erzeugten Elektrizität. Unschlüssig stieß Charlotte mit ihrer Stiefelspitze Steine in den Graben. Die Zweifel flogen trotzdem in Scharen heran und setzten sich auf ihre Schultern. Da passt was nicht, da hast du was übersehen, lispelten sie, und Charlotte erkannte unschwer ihre eigene Stimme. Den Brief, der am Abend von Felix eintraf, tunkte sie ungelesen in eine Tasse mit Kaffee, so schlecht gelaunt war sie.
    Zwei Tage später ritt sie einen viel weiteren Bogen als sonst Richtung Nordwesten. Sie stieg aber nicht ab, sondern ließ die Zügel locker und Madeira ihren Weg gehen. Gelegentlich blieb das Pferd sogar stehen, hob den Kopf und rupfte Zweige ab, an denen gerade die Knospen klebrig und saftig wurden. Es dauerte nicht lange und Charlottes Überlegungen überkreuzten und verfingen sich noch mehr als am Tag zuvor. Hässliche Knoten zurrten sich fest, wo vor ein paar Monaten noch sauber durchdachte Gedankenfäden gewesen waren. Blitz bedeutete Unheil, Strafe und Gottesurteil sagten sogar manche.
    Natürlich war Elektrizität gefährlich. Charlotte hatte von gewaltigen Schocks gelesen. Aber wenn das Fluidum eingesperrt werden konnte, dann ließ es sich vielleicht auch beherrschen und zähmen. Und konnte man es auf Vorrat halten, dann brauchte man es nicht erst mühsam erzeugen oder aus dem Himmel abzapfen. Wie und wo aber konnte man es dingfest machen, da es weder sichtbar war noch roch oder Laute abgab? Charlotte überkam das frustrierende Gefühl, dass vielleicht alles doch nur ein Spiel war. Ein anderes als die, die ihre Mutter und der Fürst spielten, ehrgeiziger, verbissener, aber im Grunde doch ohne einen anderen Sinn und Zweck, als die Zeit totzuschlagen. Würde sie weiter kommen, wenn die Elektrisiermaschine erst einmal da war? Wenn sie überhaupt noch kommen würde. Charlotte wartete jetzt schon so lange darauf. Dabei wusste jeder vernünftige Mensch, wie ungesund Warten sich auf die Gallensäfte auswirkte. Es komme zu gefährlichen Anstauungen, behauptete ihr Vater. Deshalb war ihre Mutter letztlich auch zum Fürsten gegangen, weil das Warten auf bessere Zeiten und darauf, dass Geispitzheims Melancholie abklang, sie ungeduldig gemacht hatte.
    Von überall her tropften Vogelstimmen herunter und klangen hämisch in Charlottes Ohren. Sie hob sich ein wenig aus dem Sattel und schrie böse zurück. Augenblicklich stob ein großer Schwarm Goldammern aus der Baumkrone, in der er sich versammelt hatte, und flüchtete in alle Himmelsrichtungen. Charlottes Unzufriedenheit mit sich selbst blieb und ritt bleischwer mit. Nach einer Weile zwang sie sich, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie den Mannheimer Weinhändler oder den bayerischen Baron geheiratet hätte. Der eine wie der andere hätte mit Sicherheit von ihr etwas verlangt. Dass sie Diener kontrollierte, Besucher empfing, und am wahrscheinlichsten, dass sie ihrem Mann zuhörte, wenn er über das Regiment oder den Anstieg der Transportkosten nach London lamentierte und unter Verdauungsstörungen litt. Auch bei dem guten lieben Louis, das hatte sich ja schon während ihrer kurzen Verlobungszeit gezeigt, hatte sie sich darum kümmern müssen, dass immer genügend kleine Steine für die Zwischenräume seiner Zehen da waren. Wie hätte sie da noch Elektrisieren sollen? Charlotte malte sich ihr Eheleben, dem sie mit Glück zum zweiten Mal entronnen war, so deprimierend aus, dass im Vergleich dazu die Qualen des Wartens und der Unruhe etwas erträglicher wurden.
    Plötzlich trabte Madeira zügiger. Sie schien ein Ziel zu haben. Charlotte schaute sich verwundert um, als durch die Äste riesiger alter Walnussbäume ein hohes spitzes Dach auftauchte. Sein sattes Rot zog sie magisch an. Bald schob sich ein Giebel mit rundem Eulenloch in ihren Blick. Drei Hühner rannten leise gackernd im Zickzackkurs vorbei. Dann

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