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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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und sie sich schon wieder entscheiden musste.
    Sie konnte seitlich nach rechts irgendwo hinein in die gelben, noch erschöpften Wiesen stapfen, auf die Landstraße biegen und über Marnheim zurückreiten. Oder geradeaus mit Blick auf die Hänge und erst nach einem längeren Weg querfeldein auf die vertraute sandige Straße Richtung Südwesten. Entschied sie sich für diese Möglichkeit, dann würde sie auch einen Blick auf die Rückseite des Wohnhauses werfen können. Und wenn dort jemand stand, Samen aussäte oder die Rosen zurückschnitt? Vielleicht die Frau, deren Stimme sie gehört hatte. Es war wie bei der Abwägung, welche Methoden man bei einem Experiment wagte. Der Ausgang war offen.
    Dann war da noch die dritte Möglichkeit. Charlotte bedachte sie noch mit gerunzelter Stirn, als ihre Hand schon längst auf dem kleinen, aus Weiden geflochtenen Türchen lag, das so leicht in den Angeln hing, dass es sich von selbst öffnete. Jedenfalls fast.
    Der Garten war noch nackt. In den Hochbeeten wartete die Erde schwarz und saftig. Auf Rosenstöcken saßen Mützen aus Sackleinen, und Tannenwedel betteten Bodenpflanzen zu. Charlotte schlang den Zügel lose um den Zaun, und Madeira blieb ergeben stehen. Wartete das Pferd auf ein Wiedersehen? Doch mit wem? Charlotte raffte ihren Rock und lief vorsichtig an der Hauswand entlang. Unter den Fenstern duckte sie sich, und in den Abschnitten dazwischen lauerte und horchte sie. Noch bevor sie zu dem vierten Fenster kam, das einen Spalt, breit wie ein Stuhlrücken, offen stand, hörte sie ein melodisches Summen.
    Zuerst sah sie nur einen gebeugten Nacken. Entlang der schmalen Rille, unter deren weißer, zartporiger Haut sich einzelne Wirbel des Halses abzeichneten, kringelten sich einzelne hellrote, flaumige Löckchen. Charlotte fielen sofort die französischen Pantoffeln mit den Blumenstickereien ein, die sie im vergangenen Herbst bei ihrem abenteuerlichen Gewitterexperiment verschlissen hatte. Dieses Geschöpf hätte sie tragen müssen! Dass es sich um ein Mädchen handelte, vermutete sie nur. Denn eine schwarze Haube verdeckte alle Haare bis auf die allervorwitzigsten Kräusel im Nacken und den Blick aufs Gesicht. Unter dem kaum Handbreit entblößten Nacken kam gleich das Rückenteil eines groben Gewandes, das dem von Nonnen ähnelte, obwohl es dunkellila eingefärbt war. Das Wesen saß ruhig, bewegte aber unablässig seinen rechten Arm. Auch der steckte merkwürdigerweise komplett in Stoff.
    Bei der Abwägung der drei unterschiedlichen Herangehensweisen an diesen Versuch hatte Charlotte nicht darüber nachgedacht, was wäre, wenn sie bemerkt würde. Genauso wenig hatte sie überlegt, ob sie sich eventuell bemerkbar machen sollte. Dass sie es jetzt tat, lag daran, dass der Nacken des Mädchens so besonders schön war.
    Charlotte klopfte mit den Handknöcheln an die Fensterscheibe. Das Mädchen, es war tatsächlich ein Mädchen, drehte sich um, riss die Augen, die Charlotte an blanke Kieselsteine erinnerten, weit auf, schaute aber mehr erfreut als erschrocken. Noch nie hatte sie so ein verblüffend perfektes Gesicht gesehen. Die Harmonie zwischen der schmalen Nase, dem Kinn, der hohen Stirn und den Wangenpartien erinnerte augenblicklich an eine der weißen Marmorbüsten, die der Fürst aus Italien mitgebracht hatte. Nur dass es eine so zarte Haut hatte, dass wahrscheinlich Sonnenschein und Regen durchdringen konnten. Der Butterton war gesprenkelt mit einer Unzahl zimtfarbener Sommersprossen. Sogar auf den Lippen saßen welche, sodass der Mund einem der gewölbten Blütenblätter des Pfirsichbaumes an der Hauswand glich. Ein Elfengesicht. Charlotte hoffte, dass ihr durch ihre Kurzsichtigkeit nicht allzu viel davon entging.
    »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nur …«
    Charlotte lächelte das Lächeln, von dem sie wusste, dass es fast alle Menschen, Madame Benoit und Hochstettler ausgenommen, mochten.
    Das Lächeln des Mädchens flog scheu zurück.
    »Ich nähe ja nur …«
    Dabei nestelte es verlegen an dem großen taubenblauen Stoff, den Charlotte ausschnittsweise durch den Fensterspalt sah. Was sollte sie nur sagen, um mit dem Mädchen ins Gespräch zu kommen? Sie wollte es so unbedingt kennenlernen, wie sie damals den Bernstein stehlen und reiben gewollt hatte. Denn ein Gesicht, das augenblicklich von einer hellen Röte überflutet wurde und aussah wie eine frisch gepflückte und in Milch zerdrückte Himbeere, bot wahrscheinlich fast so viele wundersame Eigenschaften wie

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