Der elektrische Kuss - Roman
gesagt, was Charlotte meinte, so froh war sie, dass ihre Freundin mit der Flasche wieder da war. Die Därme des Kleinen, so sagten sie sich, mussten leer sein, was quälte ihn noch? Und vor allem fragten sie sich, ob er wie schon beim ersten Versuch die Ziegenmilch bei sich behalten würde.
Während sie in der Küche mit dem Kleinen auf dem Arm hantierten, sich mit gedämpfter Stimme beredeten und frisch gemolkene Ziegenmilch lauwarm bereithielten, ließ sich Samuel kein einziges Mal blicken. Charlotte fragte auch nicht nach ihm. Auch Uri blieb unsichtbar. Das haarfeine Gespinst der Rebellion, das Sarah offenbar gegen ihren Vater gesponnen hatte und in dem sie mit verstrickt wurde, amüsierte Charlotte trotz der traurigen Umstände. Was wurde hier gespielt? Die Welt, in die sie hineingeraten war, schien weniger simpel zu sein, als sie anfänglich gedacht hatte. Diese Hochstettlers hatten wohl ihre Geheimnisse.
Auch wenn sie sich in der Küche und der angrenzenden Stube umblickte, dann fand sie einiges sehr doppeldeutig. Es sah in diesem Haus eindeutig nach Wohlstand aus, nach einem kalkulierten, mit dem Zirkel abgezogenen Wohlstand allerdings. Denn keinen Stuhl, keine Anrichte, keinen Topf und keinen Teller gab es zu viel, nicht einmal abgenagte Knochen auf dem Boden und keine geschnitzten Schnörkel an den Lehnen oder Spiegel an der Wand. Nirgendwo lagen Unrat und Abfälle, die Böden waren gefegt, die Tiegel blank gescheuert. Diese ungewöhnliche Sauberkeit befremdete Charlotte am meisten.
Als sich die Stunden zogen und Sarah und sie nichts mehr anderes taten als abwechselnd aufzustehen, um zum Herd zu gehen, nur um doch festzustellen, dass die Ziegenmilch im Topf ausreichte und auch noch genügend warm war, wuchs auch Charlottes Verdruss, und es packte sie die Lust, einen Schuss abzufeuern, um diese blitzblanke Ordnung etwas durcheinanderzubringen, und von Felix zu erzählen, von Felix, dem nicht nur Klugen, sondern auch dem Schönen, dem Verführerischen. Wie weit konnte sie gehen, bis auch Sarah sie aus dem Haus hinauswarf? Die Zinnflasche würde sie dieses Mal natürlich bei den Hochstettlers lassen.
»Die Pantoffeln, die du mir geschenkt hast, sind immer noch in dem Versteck am Bach«, flüsterte Sarah und strich Charlotte über den Rücken. Nach dieser Liebeserklärung beließ es Charlotte bei einem matten »ach ja tatsächlich« und »weck ihn noch mal auf«.
Als es dämmerte, kam eine Magd und ging mit einem Teller voll Essen wieder hinaus. Hochstettler wollte also nicht mit ihr in einem Raum sein. Augenblicklich beschloss Charlotte, Uri bei nächster Gelegenheit zu verführen, um Hochstettler zu ärgern, mehr noch, ihn zu demütigen. Dieselbe Magd kam zurück und richtete ihr stillschweigend in der angrenzenden Kammer ein Bett. Sarahs flehender Blick genügte, damit Charlotte sich auf dieses Abenteuer einließ. Die starren weißen Laken, zwischen die sie eine Stunde später zuerst zögerlich, dann neugierig schlüpfte, waren reinlicher als alles Bettzeug, in dem sie je gelegen hatte. Es duftete sogar. Was für ein Tag der Experimente, dachte sie und schlief augenblicklich ein.
Am nächsten Morgen lebte Jakob noch.
Als die Wiesen nach der Flutung wieder betreten werden konnten, reichte Samuel das neue Gras schon bis an die Waden. In den drei Wochen war es regelrecht in die Höhe geschossen. Noch dazu saftig und fett und in einem unbeschreiblich frischen Grün, an dem sich Samuel nicht sattsehen konnte. Er versuchte Uri davon zu überzeugen, dass es so ein intensives, fast schon ins Bläuliche übergehende Grün eigentlich nur in der Schweiz gab, von wo ihre Vorfahren gekommen waren. Samuel sprach viel mehr als sonst, schneller, ohne Pausen, von Fässern, die er kaufen wolle, um den Mist samt Brühe auf die Felder zu transportieren und dort auszubreiten, von Älbli, von Jacob und dann wieder von dem ganz ungewöhnlichen Grün dieser Wiesen.
»Das kommt vom Wasser«, meinte Uri schließlich und zuckte schief grinsend mit den Schultern.
Kapitel 6
M anteuffel schrieb aus Leipzig, dass sich sein Zahn eine ganze Weile beruhigt gehabt habe, jetzt aber wieder wie wahnsinnig poche und ihm sein der Wissenschaft gewidmetes Leben vergälle. Der zweite Brief, der Charlotte an diesem Tag erreichte, enthielt noch mehr Katastrophen. Der Fürst nenne die dralle Enkeltochter Bretzenheims jetzt schon »mein Engel. Zum Kotzen sei das. Kurzum, ihre Mutter befand sich in höchster Not. Abgesehen davon leide sie
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