Der elektrische Kuss - Roman
Zeit wie Honig vom Löffel tropfte. Sie wunderte sich, dass sie sich dabei nicht langweilte.
Samuel Hochstettler dagegen blieb auf der Hut. An manchen Tagen drückte er sich im Stall und in der Scheune herum, obwohl er schon mit der Arbeit fertig war und Hunger hatte oder dringend ein frisches Taschentuch brauchte. Aber er ging nicht über den Hof ins Wohnhaus, solange sie noch da war. Lieber vertat er seine Zeit damit, durch einen Spalt in der Tür zu blinzeln, bis seine Augen tränten, und abzuwarten. Manchmal knurrte sein Magen vor Hunger oder Anspannung, manchmal vor beidem, und Samuel kam sich ausgesprochen dumm vor. Vor allem ärgerte er sich über das nutzlose Vertun von Zeit. Doch er hatte sich vorgenommen, jede weitere Begegnung mit ihr zu vermeiden.
Gott hatte sich diese Person als Werkzeug ausgesucht, um seinen Sohn vor dem Verdursten und Verhungern zu retten, daran wollte Samuel gar nicht rütteln. Gottes Plan, das ließ sich auf fast jeder Seite der Bibel nachlesen, verbarg sich dem menschlichen Auge oft hinter dichten Wolken. Das musste der Erdenwurm Mensch hinnehmen. Aber dass sie nun täglich kam und zwei, drei Stunden herumsaß, Sarah den Kopf verdrehte und seinen Tagesablauf blockierte, sah er nicht mehr so ganz als Gottes Fügung. Er wünschte dieser Person nichts Böses, ganz im Gegenteil, seine christliche Nächstenliebe gehörte auch ihr. Herr von Geispitzheim tat ihm allerdings von Herzen leid. Wie sollte er einen anständigen Mann für eine Tochter finden, die am hellen Tag in knallbunten Kleidern und mit Federn im Haar herumlief und noch dazu sich den Plänen ihres Vaters widersetzte? Jemand wie sie, so vermutete Hochstettler, war wahrscheinlich sogar draußen in der sündigen Welt ein Sonderfall. Nichtsdestotrotz hatte er sich herzlich bei ihr bedankt, als Jakob endlich trank.
Als Samuel eines Morgens die Staubwolke auf der Straße näherkommen sah, freute er sich schon, weil er annahm, es sei der Scheffler, bei dem er zwei Fässer bestellt hatte. Aber es war ein einzelner Reiter, ein kurfürstlicher Beamter, der schließlich sein Pferd vor dem Hof zum Stehen brachte. Die übliche Sache, reine Routine, hieß es. Eine Kladde wurde aufgeschlagen, eine Liste musste überprüft und vervollständigt werden, damit man in der Mannheimer Kanzlei nicht die Zahl der Mennoniten aus dem Auge verlor. Mennoniten, sagte der Beamte gedehnt, in Samuels Ohren hörte es sich trotzdem wie Ketzer an. Der Mann sprach schleppend und fragte mechanisch. Er musste an dem Tag noch zwei weitere Höfe abklappern, und zu seinem Verdruss wohnten diese seltsamen Vögel weit verstreut und abgelegen.
»Meine Tochter Sarah, der Knecht Uri, die Mägde Christiana und Else, ich«, zählte Samuel Hochstettler gehorsam auf, räusperte sich aber, bevor er ergänzte: »Meine Frau Johanna ist vor sieben Wochen gestorben.«
Der Beamte blickte nicht von seiner Liste auf, strich nur einen Namen durch, nachdem er hinter die anderen einen kleinen Haken gemacht hatte.
»Aber mein Sohn lebt, ich habe einen Sohn bekommen. Jakob Hochstettler, er…«
»Aha, also ein Kind mehr. Moment mal, ich muss den Namen in diese Spalte eintragen. Naja, eins, das geht ja noch, auf dem Münsterhof sind es seit der letzten Zählung schon fünf mehr.«
Eilig packte der Mann seine Kladde in die Satteltasche und ritt davon.
Gegen Mittag am nächsten Tag wurden schließlich die beiden Fässer geliefert, die Samuel in Auftrag gegeben hatte. Aus Eichenholz, duftend, dickbäuchig, mit breiten geschmiedeten Eisenbändern und deshalb ziemlich teuer. Langsam legte Samuel eine Münze nach der anderen in die Hand des Schefflers. Auf die Frage, wozu er gleich zwei brauche, murmelte er ein paar zusammenhanglose Worte. Besser man hielt sich bedeckt. Der Klee sorgte schon für genug dummes Gerede. Auch Uri und der andere Knecht, der zwar lutherisch, aber zugebenermaßen schneller im Kopf war, schauten verständnislos und warfen sich Blicke zu, als Samuel ihnen nach der Stallarbeit befahl, die gesamten Ausscheidungen der Kühe und Rinder, jawohl, die des Stieres auch, zusammenzukehren und in eines der Fässer zu schaufeln. Wäre das erste bis knapp unterm Rand voll, das würde aber mindestens zwei, drei Wochen dauern, sollten sie das zweite beladen. Samuel ärgerte sich über ihr Zögern und blödes Grinsen, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Stall. Er hatte keine Lust, ihnen schon wieder zu erklären, was er vorhatte. Trotzdem machte es ihn traurig,
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