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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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verschwommen entgegen, denn das starke Kitzeln, das ihm gerade durch den ganzen Körper bis zu den Zehen hinuntergerannt war, lähmte noch seine Sinne. War sie vielleicht eine Hexe?
    »Alles ist gut… wie heißt du noch mal? Ach ja, Uri, alles ist gut, und jetzt gib mir mal den Frosch.«
    Weil Uri nicht reagierte und sie nur benommen anglotzte, öffnete sie seine Hand, was ihm einen zweiten Schlag durch die Glieder jagte, nahm ihm den Frosch ab und legte das Tier, das sich nicht mehr bewegte, mit seiner hellen Unterseite nach oben auf einen Tisch.
    »Schau her, mausetot«, frohlockte Charlotte. Umständlich kramte sie in einem Kasten mit Utensilien und zog schließlich ein Messer mit einer schmalen, spitzen Klinge hervor.
    »Ich habe mich immer gefragt, wie viel Elektrizität man dafür braucht. Interessant wäre, als nächstes herauszufinden, ob diese Menge auch noch einen Hasen umbringen würde?«
    Grübelnd blickte Charlotte zunächst auf den vor ihr liegenden schlaffen Frosch mit seinen langen stummen Gliedmaßen und dann auf Uri, der sich in einem nicht vollständigen, aber äußerlich ähnlichen Zustand wie das Tier befand. An der farblosen Kehle setzte sie die Klinge an und ritzte von dort behutsam, aber zügig die Haut zuerst bis zum linken und dann zum rechten Schenkel hinunter auf. Aus den Öffnungen quollen Gallertmasse und durchsichtiger Schleim.
    Uri hatte schon oft aufgeplatzte Frösche gesehen, die die Katze gebracht hatte oder die zufällig auf dem Weg lagen und verdorrten. In Notzeit aß man auch Frösche. In Frankreich, das hatten die geflohenen Brüder erzählt, sogar einfach so. Doch er fand es sehr seltsam, dass ein Mensch, auch wenn er wie das Fräulein etwas Besonderes war und nach Blumen duftete und ein veilchenblaues Kleid trug, einen Frosch einfach so um des Tötens willen tötete. Einen tieferen, vor allem nützlichen Sinn konnte er in dem, was sie tat, auf jeden Fall nicht erkennen.
    Charlotte beeilte sich. Im Topf waren nur noch zwei Frösche vorrätig, die sich verzweifelt umeinander wanden. Sie hatte sich kurzfristig für Frösche entschieden, weil sie, wie sich schnell herausstellte, wesentlich leichter lebend zu fangen waren als Mäuse, die sie ursprünglich im Sinn gehabt hatte. Sie brauchte Ablenkung, ihr Gehirn musste wieder etwas zu tun haben und zu klarem, systematischen Denken gezwungen werden. Der Eklat mit Hochstettler, das gestand sich Charlotte ein, hatte sie mehr Nerven gekostet als nötig. Erstens hatte dieser Mensch ihr vermasselt zu beweisen, was sie und Felix mit so viel Mühe als Hypothese aufgestellt hatten. Zweitens gruselte es ihr vor dem seltsamen Aberglauben, der ihm im Nacken hockte und ihn so beharrlich ritt, dass kein Fünkchen Vernunft mehr in seinem Kopf übrig blieb. Und dann auch noch der Ton ihr gegenüber! Die Hunde ihres Vaters sollte man auf ihn hetzen oder gleich die kurfürstlichen Amtsleute verständigen.
    Stattdessen hatte sie nur, als sie vom Muckentalerhof zurückgekommen war, die perfekt gemachte, aber leider überflüssige Zinnflasche zu dem Staub unter ihr Bett geworfen, wo vor einem Jahr, so fiel ihr ein, noch ihr Drachen gelegen hatte. In jenem Moment kamen ihr mit einem Mal die elektrischen Experimente mit Tieren in den Sinn, über die sie bei Gray gelesen hatte. Oder war es doch Dufay gewesen, der darüber geschrieben hatte? Sei es drum. Natürlich tat ihr Sarah furchtbar leid, die Sanftheit und Süße in Person war. Und der Kleine, der auch.
    In der folgenden Nacht lag Charlotte lange wach und grübelte über den menschlichen Verstand. Sie wusste jetzt, was Felix meinte, wenn er behauptete, dass es eine allen Menschen angeborene Rationalität gab, die von der Kirche und den weltlichen Tyrannen unterdrückt wurde, bis schließlich dicke Schmutzschichten von Ignoranz und Dummheit auf der Welt lagerten, die sich bequem beherrschen ließen. Felix, philanthropisch wie er war, glaubte, dass genügend Schulbildung die wahren Begabungen der Menschen wieder zum Vorschein kommen lassen würde. Bei Hochstettler aber, vermutete Charlotte, vernebelte zwar auch ein irriger Glaube seine Vernunft. Allerdings war die Sache bei ihm komplizierter und ambivalent. Warum verhielt sich jemand, dessen Worte über Kleeanbau und Ertragssteigerung im Winter sehr klug klangen und darauf hinwiesen, dass er sehr wohl an Fortschritt und Neuerungen interessiert war, derart unsinnig und riskierte den Tod seines eigenen Kindes, dem durch Erfindungsgeist und moderne

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