Der elektrische Kuss - Roman
Prüfung auferlegt. Außerdem«, brummte Noah, »ist das Recht auf ihrer Seite.«
»Was für ein Recht!«, höhnte Noahs Frau, sodass sich nicht nur ihr apfelbäckiges Gesicht hässlich verzog, sondern auch die beiden Männer zusammenzuckten, denn so eine aufbrausende Stimme kam sonst kaum aus dem Mund einer frommen Täuferin. Umso leiser sprach Samuel aus, was er bislang nur vom Hörensagen wusste:
»Das Retraktionsrecht des Kurfürsten erlaubt, dass man uns Täufern innerhalb von drei Jahren den Besitz wieder auslösen kann, sodass alle unsere Käufe null und nichtig sind.«
»Dafür zahlen wir ihm dann auch noch Schutzgeld«, empörte sich die zähe kleine Frau, die im vergangenen Jahr ihr vierzehntes Kind geboren hatte. » Und vergesst nicht die 10 000 Gulden, die wir beim Thronwechsel von 1741 aufbringen mussten, damit unsere Generalkonzession erneuert wurde.«
Beklommen nickte Samuel, während Noah eine Träne nach der anderen über das Gesicht lief und lautlos im schwarzen Bart versickerte. Die behaarten Mottenflügel kratzten mittlerweile wieder an Samuels Rachen. Er konnte sich räuspern, so viel er wollte, sie rutschten nicht hinunter und ließen sich auch nicht herausspucken.
Sobald Samuel wieder zu Hause war, nahm er in aller Heimlichkeit Kontakt mit Adam Krehbühl vom Weierhof auf. Sie trafen sich am Ufer der Pfrimm. Genau an der Stelle, an der sie als Kinder Krebse und Stichlinge gefischt und mit Feuersteinen gezündelt hatten. Das zu ihren Füßen schwappende gelbe Wasser roch angenehm faulig wie eh und je, und sie ließen diesen Geruch erst für eine Weile in ihre Nasen steigen und sich dort einnisten und Vertrauen schaffen, bevor sie zum Geschäft kamen. Nach einer halben Stunde hatte Samuel seinen gesamten Viehbestand, alle Gerätschaften und das Hausinventar verkauft. Nach kurzem Feilschen, zu einem anständigen Preis und per Handschlag. Auch der gelbe Hund Bärli sollte, wenn es so weit war, auf den Weierhof kommen, wo die Krehbühls eine neue Hofstelle für einen jüngeren Bruder gründen wollten.
»Der Herr sei mit dir, Samuel Hochstettler.«
»Mit dir auch, Adam Krehbühl.«
Auf dem Weg zurück grübelte Samuel darüber nach, was Adam bewogen hatte, sich seinen Bart zu scheren, sodass sein Kinn jetzt glatt war wie das eines Soldaten.
Die »Abhandlung über das Glück« gefiel Charlotte noch besser als »Die Maschine Mensch«. Zwar verbot es die pfälzische Zensur ebenfalls, aber da es in Potsdam erschienen war, ließ es sich leichter ins Land schmuggeln. Felix organisierte, dass La Mettries Werk am Zoll vorbei nach Kirchheim kam, doch er machte keinen Hehl daraus, dass er den Franzosen für einen üblen Nestbeschmutzer hielt, einen Verräter an dem großen Ziel, die Menschheit aufgeklärter und damit automatisch moralischer zu machen. Ausgerüstet mit einer noch ofenwarmen Fleischpastete und einer halben Flasche Wein, denn immerhin war im Moment Geld im Haus, nistete sich Charlotte an diesen trüben Nachmittagen wieder in ihrer bevorzugten Fensternische zum Lesen ein. Schlampig gekleidet, die Beine angezogen, bohrte sie ihre lange Nase so tief zwischen die Seiten, dass keiner der Hofgesellschaft sie erkannt hätte, wenn er oder sie vorbeigekommen wäre. Aber nur die Nebelschwaden kletterten die Fensterscheiben lautlos auf und ab und wurden stundenweise so dicht, dass sie auch die verrenkten Äste der Obstbäume im Garten verschluckten.
Ziemlich häufig musste sie zurückblättern und Satz für Satz noch einmal genau nachlesen, um den Sinn zu verstehen. Denn La Mettrie argumentierte mit einer Ironie, die sich mit nicht minder bissiger Selbstironie zu oft paradoxen Gedankenlindwürmern paarte. Es gab Passagen, in denen sie eine Beschreibung von sich selbst zu entdecken glaubte. Naive Hedonisten nannte La Mettrie nämlich Menschen, die nach seiner Beobachtung besonders gesund lebten. Nachdenklich setzte Charlotte die Flasche an die Lippen und trank in großen Zügen. Wahrscheinlich wäre er genau der Arzt, um ihren Vater von seinen tatsächlichen und eingebildeten Krankheiten zu kurieren. Aber Potsdam war weit, und La Mettrie wurde dort, so hatte ihr Felix verraten, vom preußischen König als Hofnarr gehätschelt. Unmöglich, ihn hierher in die pfälzische Provinz zu locken. Charlotte leerte den Rest der Flasche und wunderte sich, warum La Mettrie ebenso wie Hochstettler und seine Täufer vehement gegen Krieg waren, obgleich sie doch in zwei Ecken standen, die nicht unterschiedlicher
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