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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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sein konnten. Gerade als sie zu der Beschreibung von höchst seltsamen Tierversuchen kam, stieg kerzengerade wie die Fontäne im Kirchheimer Gartenteich Übelkeit in ihr auf. Sie schaffte es gerade noch, die Kerze beiseitezustellen, da spie sie schon in hohem Bogen auf die Holzdielen. Hatte die Ammerling also wieder altes Fleisch hineingestopft! Dabei hatte die Pastete ausgesprochen gut geschmeckt.
    Schon am nächsten Morgen hakte sich Charlottes Nase wieder an der Stelle ein, die sie unfreiwillig hatte verlassen müssen und wo La Mettrie ausführlich beschrieb, wie der Genfer Biologe Abraham Trembly Polypen tranchierte. Zwar hatte sie noch nie von solchen Lebewesen gehört, konnte sich nach einer Weile aber ganz gut vorstellen, dass sie klein und glitschig sein mussten, mit Tentakeln und einer Art großem Mund. Es freute sie ungemein, dass Forscher heutzutage vor nichts mehr Halt machten. Wobei La Mettrie, wie sie eine Seite weiter begriff, nicht das kuriose Geschöpf als solches interessierte, sondern nur dessen erstaunliche Fähigkeit zu überleben. Zerschnitt Trembly nämlich einen dieser Polypen, dann regenerierten sich die Einzelstücke wieder zu einem Ganzen.
    Der Philosoph knüpfte aus diesem außergewöhnlichen Vorgang eine grandiose These, mehr noch einen Beweis. Nämlich dass die menschliche Seele eben nicht, wie seit Jahrhunderten angenommen, immateriell und göttlichen Ursprungs sei, sondern, weil teilbar, durch und durch körperlich. Natur, Fleisch, wenn auch schleimiges, aber eben nichts anderes. Charlotte kribbelte es vor Erregung im Bauch und sie wünschte, sie hätte ein Glas Champagner, um auf diese kolossale Neuigkeit anstoßen zu können. Denn, wenn sie alles richtig kapiert hatte, und davon ging sie aus, dann wischte La Mettrie damit den leidigen Gegensatz zwischen Leib und Seele, Fleisch und Geist ein für alle Mal vom Tisch. Nicht ohne vorher noch das einzig fehlende Argumentationsglied in seiner Beweiskette zu liefern, indem er kurz und bündig erklärte: Tiere sind fast so vollkommene Maschinen wie Menschen. Überwältigt und erschöpft lehnte sich Charlotte in der Fensterleibung zurück. Hochstettler musste davon erfahren. Unbedingt! Denn wenn auch er La Mettrie verstand, dann würde er aufhören, sich und Sarah unnötig zu quälen. Mit der Seele war ihrem strengen Gott, der ihnen dauernd Gewissensbisse einbrockte, automatisch die Existenzberechtigung entzogen. Charlotte erschrak über sich selbst. Sie war zu weit gegangen. Dass ihr kurz darauf wieder speiübel wurde und sie sich erneut übergeben musste, führte sie deshalb auf ihre Lasterhaftigkeit zurück. Denn Pasteten hatte sie, seit sie aufgestanden war, noch nicht angerührt.
    Es kam noch schlimmer. Am darauf folgenden Tag wachte sie schon mit einem flauen Gefühl auf. Wohlweislich hatte sie ihren Nachttopf in die Nähe gestellt. Zittrig und elend kroch sie anschließend auf Knien zurück in ihr Bett, stellte, als sie lag, fest, dass die Stuckdecke über ihr sich wie zu einem langsamen Tanz zu drehen begann und schließlich schräg die Wand herunterrutschte. Während ihr Reifrock und die Kommode die andere Wand hinaufwanderten. Es wurde nicht unbedingt besser, wenn sie die Augen zumachte. Auch so kreisten gleißende rote Punkte. Die Wände ihres Magens zogen sich ruckartig zusammen, aber es war kein Inhalt mehr vorhanden, den sie nach oben hätten pressen können. Wenn sie starb, so schoss es Charlotte durch den Kopf, würde es Tage dauern, bis man sie fand. Keinem Mensch würde auffallen, dass sie nicht mehr in der Fensternische saß und las. Eine wohlige Woge von Selbstmitleid überspülte und versüßte den ekeligen Geschmack in ihrem Mund und ihrer Kehle.
    Zu ihrem eigenen Erstaunen arbeitete unter dem Strom der ganzen Malaise ihr Verstand weiter. Zumindest zwei, drei Rädchen des schönen Maschinenwerkes, das ihr Monsieur La Mettrie zubilligte. Über diese Räder ratterten in einer Endlosschleife Sätze, die sie die vergangenen Tage gelesen hatte. Sätze, so fein und gründlich genäht wie die Muster in Sarahs blauer Decke. Unverwüstlich, einprägsam. Nur was Natur ist gilt, lautete der eine. Ein anderer bestand aus drei Wörtern, deren schwarz gedruckte Buchstaben von Zeit zu Zeit über die Innenseite von Charlottes Lidern spazierten, so als ob sie sie mit einem Pedal elektrisiert und in Bewegung gesetzt hätte: Tatsache, Ursache, Wirkung. Das Vaterunser ihrer Zeit, das Charlotte auch schon vor La Mettrie, wenngleich nicht so

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