Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elfenpakt

Titel: Der Elfenpakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbie Brennan
Vom Netzwerk:
noch unter die Nase reiben.
    »Habt ihr bei Papa angerufen?«, fragte er.
    Anaïs begann nervös zu zwinkern. »Nicht sofort«, gab sie zögernd zu.
    »Und warum nicht?«, wollte er wissen. »Seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich bei ihm übernachten könnte?«
    »Aber das hast du doch nicht?«, fragte Anaïs.
    »Nein, hab ich nicht, aber darum geht es doch gar nicht. Der Punkt ist der, dass ihr euch alle solche Sorgen macht, aber niemand, weder du noch Mama, auf die Idee kommt, zuerst mal bei Papa anzurufen. Oder habt ihr das getan?«
    Nun war es an Anaïs, auf ihre Füße zu starren. »Nein.« Dann hob sie plötzlich den Kopf. »Und das war falsch. Du hast Recht, Henry, es war ein großer Fehler. Aber manchmal macht man einfach … etwas falsch. Du warst drei Tage verschwunden, und wir waren völlig verzweifelt. Deine Mutter liebt dich, Henry. Und ich liebe dich…«
    »Wag es nicht zu sagen, dass …«, begann Henry wütend, dann hielt er plötzlich inne. »Ich war doch nicht drei Tage weg.«
    Anaïs kam herüber und setzte sich trotz seines Verbots zu ihm aufs Bett. Sie blickte ihm in die Augen und ergriff seine beiden Hände. »Doch, das warst du, Henry. Genau darum geht es doch. Wir sind verrückt geworden vor Sorge, und zwar alle. Charlie sagte, du hättest sie nach Hause gebracht und dich dann auf den Heimweg gemacht. Sie dachte, dass du den letzten Bus noch erwischt hast. Aber das war am Dienstag. Heute ist Samstag.«
    »Heute ist nicht Samstag«, flüsterte Henry. Ihm wurde auf einmal angst und bange, ohne dass er wusste, warum.
    »Was ist denn los?«, fragte Anaïs leise. »Hast du Drogen genommen?«
    »Ich habe keine Drogen genommen!«, zischte Henry sie an. »Ich habe noch nie Drogen genommen!« Er konnte doch nicht drei Tage lang fort gewesen sein. Er hatte den Bus gestern Abend verpasst. Gestern Abend.
    Irgendetwas stimmte nicht. Er war nicht nur verwirrt.
    Henry kniff ein paar Mal die Augen zu und schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Er fühlte sich wirklich wie auf Drogen. Irgendwas mit der Wirklichkeit stimmte nicht. Das Zimmer um ihn herum begann sich zu drehen. Er starrte auf seine Hände, um irgendwo Halt zu finden. Sie lagen in Anaïs’ kleinen, gut gepflegten Händen mit den knallrot lackierten Fingernägeln. Aber seine Hände begannen sich in ihren Händen aufzulösen.
    Henry schaute zu, panisch und fasziniert zugleich. Seine Hände zerbröselten zu winzigen kleinen Funken wie bei einem Spezialeffekt im Film. Er spürte, wie ihm langsam übel wurde. Er hob den Kopf, um Anaïs ins Gesicht zu schauen. Es wurde blendend weiß und verschwand. Und auch Henry löste sich plötzlich auf.
    Ihm war, als müsste er sterben.

 
DREIUNDZWANZIG
     
    D ie Kaiserliche Suite war riesig und luxuriös, und Blue hasste sie. Die Sessel waren zu groß, das Bett zu weich und die Wandteppiche zu prächtig.
    Und die Erinnerungen schmerzten so sehr.
    Alles hier erinnerte sie an ihren Vater. Manchmal glaubte sie sogar, seinen Duft wahrzunehmen oder ihn seinen Beschäftigungen nachgehen zu hören. Einmal, mitten in der Nacht, war ihr, als hörte sie sein tiefes, grollendes Lachen.
    Noch immer konnte sie den Blutfleck auf dem Teppich sehen, obwohl die Diener jeden kleinsten Partikel weggeschrubbt hatten und der Bodenbelag später, auf ihr Geheiß, komplett ausgetauscht worden war. Farbe und Muster waren allerdings gleich geblieben – so schrieb die Tradition es vor –, und der Blutfleck war immer noch da und wurde in ihrer Vorstellung zu einer immer größeren Lache.
    Die Kaiserin hatte im Herrschergemach zu wohnen, auch das war Tradition. Aber Blue brauchte einen klaren Kopf. Wie sollte sie nachdenken, wenn sie auf Schritt und Tritt ihren Vater vor sich sah? Sie musste hier raus.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, betätigte sie das geheime Paneel in der Wandvertäfelung, das Comma in den wenigen Tagen, in denen er den Kaiser spielte, entdeckt hatte. Es öffnete sich, und zum Vorschein kam ein Geheimgang, der den Kaisern seit Generationen als Fluchtweg gedient hatte. Damals waren sie geflohen, um ihr Leben zu retten. Blue dagegen flüchtete jetzt vor einem Geist. Sie betrat den Gang, und hinter ihr schloss sich die Wandvertäfelung wieder.
    Der Gang endete am Ufer der Palastinsel, vor der breiten Amtsfurt. Es wurde bereits dunkel, und Blue setzte sich auf einen der größeren Steine und sah zu, wie in der Stadt nach und nach die Lichter angingen. Nicht ganz so weit entfernt schob sich, von

Weitere Kostenlose Bücher