Sophia oder Krieg auf See
2 »Wie konnte er das tun?«.
Die Stimme war schrill. Sie war so laut, dass selbst das Ungeziefer sich noch tiefer in die Mauerritzen der alten Burg verkroch.
»Wie konnte er so etwas tun?«, brüllte die Frau wiederholend und überall in dem riesigen Gemäuer eilten Menschen hektisch hin und her, entweder um dem Zentrum des akustischen Bebens möglichst weit zu entfliehen oder aber in jener Höhle des Löwen möglichst schnell anwesend zu sein und der Pflichterfüllung nachzugehen.
»Auf dem Rad 22 will ich ihn sehen«, kreischte es und das R im Rad rollte so inbrünstig und wild, als wolle der Sprecher den Delinquenten mit schieren Worten zu Tode rollen. »Jeden Knochen sollen sie ihm brechen und jede Sehne einzeln durchschneiden«.
Königin Margarete, die mächtigste Frau der Welt, war überwältigt vor Zorn. Ihre geballten Fäuste zitterten vor ihrer Brust und das Licht der Abendsonne, das durch die prächtigen Buntglasfenster in den Audienzsaal schien, zündete in den vielen Edelsteine auf ihren Fingerringen ein sprühendes Feuerwerk.
Margarete war Mitte vierzig und galt mit ihrer immer noch makellosen, glatten Haut gemeinhin als wunderschön. Aber in diesem Augenblick, mit hochrotem Kopf und verzerrten Gesichtszügen, mochte man dem Leibhaftigen gegenüber stehen.
»Ich will ihn mit eigenen Händen erwürgen«, presste Margarete weiter hervor und sie blickte auf die zu Boden geneigten Häupter von einem Dutzend Edelmänner, die vor ihr knieten. »Wie kann das überhaupt möglich sein? Eine ganze Armee kann doch nicht einfach überlaufen! Habt ihr eure Leute denn nicht im Griff?«.
Die Königin machte zum ersten Mal eine Pause, und einer der knienden Männer hatte den Mut den Kopf zu heben und eine Rechtfertigung zu formulieren. Doch er kam nicht mal zum Luft holen. »Ich will nichts hören«, schnaubte Margarete, »Geht. Sofort. Verschwindet. Ihr werdet euch für weiteren Rapport 23 zur Verfügung halten«. Sie drehte sich um und schoss den gewundenen Gang zu ihren Gemächern in einem Tempo davon, in der sie sicherlich auch einfach die Abkürzung mitten durch die Wand hätte nehmen können. Um die Edelmänner herum stürzten Kammerfrauen und Diener der Regentin hinterher. Einer der Adligen bekreuzigte sich und die Gruppe erhob sich mit dem Gesichtsausdruck von Delinquenten, die soeben zu lebenslanger Todesstrafe verurteilt worden waren. Ein Strafmaß, da waren sich alle sicher, die die Königin für sie möglicherweise noch erfinden würde.
Nicht einmal ihr wallendes, langes Kleid wagte es, Margaretes Impuls in die Quere zu kommen. Mit einigem Vorsprung vor ihrem Gefolge erreichte die Königin ihr Schlafgemach, öffnete die große und kunstvoll verzierte Holztür, stürmte in das große Zimmer, komplimentierte durch ein kaltes »Raus!« zwei dort mit Handarbeiten beschäftigte Hausdamen zur Hölle, und warf die Tür mit einem saftigen Rums wieder in das Schloss.
Ruhe kehrte ein.
Mit wenigen Schritten ging Margarete zum offenen Fenster, nun sehr viel langsamer, fast schwächlich, als sei ein Großteil ihrer wütenden Energie nicht schnell genug hinterhergekommen und von der schweren Zimmertür im Rahmen eingeklemmt worden.
Sie stützte sich auf den Fenstersims und ihr Blick schweifte in die Weite. Über Felder, Wiesen und das Meer, dessen ferne, kleine Wellen die Lichtstrahlen der roten Abendsonne ungestüm zurück in den Himmel boxten. Tiefer und tiefer holte Margarete Luft, und fast schien es, sie wolle niemals mehr ausatmen.
Es war unmöglich Trost zu empfangen, wenn man sein Leid mit niemandem teilen konnte. Ein Leid, von dem ihr Hofstaat nicht den blassesten Schimmer hatte. Hoffentlich, bei Gott, hatten sie keinen Schimmer.
»Birgitta, hilf mir«, flüsterte sie leise im Angedenken der vor über zwanzig Jahren verstorbenen Heiligen 24 . Der Glaube konnte Berge versetzen, wie wahr. Und der Glaube bedeutete Margarete sehr viel, gab er ihrer Existenz doch ein hübsches Fundament. Doch so wie das Versetzen von Bergen in ihrem flachen Kernreich von wenig praktischem Nutzen war, gab es letztlich auch nur eine einzige Quelle aus der sie wirklich Kraft schöpfen konnte, um Krisen wie diese zu überstehen. Und diese Quelle war sie selbst. Hoffentlich, bei Gott, würde die Quelle nicht versiegen.
Margaretes Lippen begannen zu beben. Der Wind strich über ihr Haar, ihre Stirn und ihre Wangen.
Nun war es eine herunterkullernde Träne, welche die Lichtstrahlen der roten Abendsonne ungestüm zurück in den
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