Der Engel mit den Eisaugen
der sie in den dritten Stock zum Büro des Staatsanwalts bringen sollte.
Gabriella Carlizzi lieferte Mignini nichts weniger als »die Wahrheit« im Mordfall Meredith Kercher und somit das Instrument, um verlorenes Terrain zurückzuerobern und seine Ermittlungen im Monster-Fall zu retten.
Mit Gabriella Carlizzis Ankunft war es, als würde an jenem Tag eine dunkle Vergangenheit auf dem Colle del Sole heraufbeschworen: das versunkene, unterirdische Perugia, seine Geschichte, sein Charakter, Hellseherinnen, die behaupteten, Botschaften von toten Seelen zu erhalten, uralte satanische Sekten, deren Mitglieder als überaus mächtig galten, schreckliche Morde, bei denen es sich in Wirklichkeit um Menschenopfer gehandelt haben sollte, Personen, die zweimal gestorben waren.
Dazu gesellten sich all die modernen Umstände: Zeitungen und Fernsehsender, die sich den Mächtigen beugen, denen wahrheitsgemäße Unterrichtung gleichgültig ist und die nur auf die große Sensation aus sind; die neuen Techniken der Spurensicherung, die in amerikanischen Serien so viel Wundersames bewirken, in unerfahrenen Händen jedoch sehr gefährlich sein können; ein italienisches Justizsystem, das seit einiger Zeit deutliche Anzeichen von Unzulänglichkeit aufwies; das Internet, die sozialen Netzwerke.
Was danach folgte, war eine Verbiegung von Fakten und eine Art der Rechtsbeugung, wie sie in diesem Ausmaß in neuerer Zeit selten beobachtet wurde.
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Kapitel 2
I ch habe sehr wohl begriffen, dass meine Geschichte nur die Spitze des Eisberges in ihrer Geschichte und in den Ermittlungen zum Fall des Monsters von Florenz ist.« Das sagte mir Raffaele Sollecito im Oktober 2012 , wenige Tage nachdem er und Amanda Knox aus der Haft entlassen und von der Mordanklage im Fall Meredith Kercher freigesprochen worden waren.
Die beiden Fälle, die an und für sich nichts miteinander zu tun haben, stehen allein durch Gabriella Carlizzi und ihre Offenbarungen miteinander in Verbindung.
Dass Giuliano Mignini an die Hellseherin glaubt, beweisen die Aussagen in seiner Untersuchungsakte zum Monster von Florenz. Mehr als die Hälfte stammen von der Römerin, und Mignini stützt sich in seinen Ermittlungen auf ihre himmlischen Offenbarungen. Dazu kommen noch weitere, sehr konkrete Vorfälle.
Da wäre zum Beispiel der Umstand, dass Mignini seine Leute am 4 . September 2002 nach Rom schickte, anstatt die Aussagen der Frau in seinem Büro in Perugia aufzunehmen – eine Tatsache, die beinahe unglaublich anmutet, wäre sie nicht im offiziellen Protokoll des Amtes für kriminalpolizeiliche Ermittlungen dokumentiert und von Inspektor Furio Fantauzzi gegengezeichnet worden. Ein solches Privileg steht laut italienischem Gesetz normalerweise nur dem Staatschef, dem Ministerpräsidenten und den Kardinälen der katholischen Kirche zu.
In ihrer Zeugenaussage erläuterte Gabriella Carlizzi dem Anwalt, wie einer der Fetische, nämlich die Vulva, die das Monster seinen Opfern entfernt hatte, verwendet worden war: »Eine Nonne, die ich vor einigen Jahren kennengelernt habe, eine gewisse Schwester Miriam, die dem Geheimdienst des Vatikans angehörte, fragte mich, ob ich über Pater Gabriele Neuigkeiten zum Gesundheitszustand von Papst Johannes Paul II . in Erfahrung bringen könne. Pater Gabriele wiederum sagte mir, der Papst sei bei einer schwarzen Messe im Vatikan mit einem Fluch belegt worden und man habe ihm einen Fetisch in den orthopädischen Lattenrost geklemmt. Bei meinem nächsten Wiedersehen mit der Nonne teilte ich ihr mit, was ich erfahren hatte. Die Schwester suchte mich später noch einmal auf, um mir zu sagen, dass man den Fetisch gefunden habe, und zwar genau an der Stelle, die ich ihr genannt hatte. Nachdem die Nonne mir noch gesagt hatte, dass man sie umbringen wolle, verschwand sie.«
Angesichts ihres »Gewichts« machte Mignini die Aussage zur Geheimsache.
Laut römischer Hellseherin waren illustre Persönlichkeiten, die angeblich einer uralten satanischen Geheimsekte, dem Orden der Rosa Rossa, angehörten, nicht nur für die grauenerregenden Verbrechen des Monsters von Florenz verantwortlich, nein, auch der Angriff auf die Twin Towers sei von ebenjener diabolischen Sekte befohlen worden. Diese Behauptung hatte sie noch am 11 . September per Fax an die italienische Presse kundgetan. Das Gleiche gelte auch für den Mord an Lady Diana, den man als einen Unfall getarnt habe. Die Rosa Rossa bestehe ausschließlich aus Prominenten und wichtigen
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