Der Engel mit den Eisaugen

staatliche Form sozialer Kontrolle.
    »Das Internet«, sagt Bowles, »ist eine nichtstaatliche Form sozialer Kontrolle.« Weiter oben haben wir gesehen, wie die Anti-Amanda-Blogger einander fanden, Websites einrichteten und eine Gemeinschaft bildeten. Wir haben gesehen, wie diese Anti-Amanda-Gemeinschaften eine Art Cyberkrieg austrugen, bei dem alle Mittel erlaubt sind, bei dem jeder, der Zweifel an Amandas Schuld äußerte, zum »anderen« wurde, zum Feind und deshalb zur legitimen Zielscheibe für die wildesten anonymen Attacken – die Auswirkungen in der realen Welt hatten. Wir haben gesehen, wie der so tief in uns verwurzelte Wunsch nach Bestrafung im Fall Amanda Knox völlig aus dem Ruder lief.
    Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es ein System wie das Internet, das unseren Bestrafungsinstinkten jeden Freiraum lässt: ohne gegenseitige Kontrolle, ohne Moderation, ohne Selbstkontrolle, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird – und das alles bei völliger Anonymität. Im Internet bleibt jede Behauptung, mag sie auch noch so falsch sein, beinahe für immer zugänglich. Angesichts der Speicherkapazität des World Wide Web könnten die 1 , 3  Millionen Fundstellen, die sich beim Googeln von »Amanda Knox« und »bitch« (Schlampe) ergeben, in digitaler Form für Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte erhalten bleiben.
    Wie Zeynep Tufekci anmerkt, ist die Gemeinschaft ein fundamentaler Bestandteil dieses Prozesses. Das Internet bildet die kleinen Gemeinschaften nach, in denen sich der Mensch entwickelt hat. Aber diesen Internet-Gemeinschaften fehlen die ausgleichenden Effekte der realen menschlichen Interaktion, bei der von Angesicht zu Angesicht über Fehlverhalten diskutiert wird und unterschiedliche Meinungen geäußert werden; wo Menschen für das, was sie sagen, zur Rechenschaft gezogen werden und wir den Mitmenschen im anderen erkennen, wenn wir ihm ins Auge sehen. In diesen Cyber-Gruppen sind alle selbsternannte Bestrafer. Andersdenkende werden ausgegrenzt, nicht genehme Meinungen gelöscht. Der Angeklagte ist nicht anwesend, er ist nur eine abstrakte Vorstellung, der »andere«, ein nichtmenschliches Wesen. Eine zerstörerische Feedbackschleife an hoch gefilterter Information verwandelt die Gruppe in einen Cyber-Mob, nicht unähnlich den Hexenjägern im mittelalterlichen Europa, den Inquisitoren oder den Lynch-Mobs in den amerikanischen Südstaaten. Wir sehen dieses Phänomen nicht nur im Fall Amanda Knox, sondern überall im Internet. So auch bei den jüngsten Wahlen in den USA . Das Internet ist in der Tat eine nichtstaatliche Form der sozialen Kontrolle – aber eine überaus dysfunktionale. Die im Internet verbreiteten Bösartigkeiten sind kein bloßes Hintergrundrauschen. Sie bleiben für alle Zeit erhalten. Sie lassen sich nicht ignorieren. Sie führen dazu, dass in der realen Welt schreckliche Dinge geschehen. Das Internet ist ein Ort, an dem sich die dunkelsten Seiten unserer Evolutionsbiologie austoben.

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    Chronologie des Mordfalls Kercher
    2 .  NOVEMBER 2007 : Meredith Kercher, eine 21- jährige englische Studentin, wird tot in ihrem Schlafzimmer in der Via della Pergola in Perugia aufgefunden.
     
    6 .  NOVEMBER 2007 : Die Polizei verhaftet Merediths Mitbewohnerin Amanda Knox, deren Freund Raffaele Sollecito und den kongolesischen Musiker Patrick Diya Lumumba. Lumumba ist Amandas Arbeitgeber. Sie bringt ihn ins Gefängnis, indem sie ihn als den eigentlichen Urheber des Verbrechens bezeichnet.
     
    11 .  NOVEMBER 2007 : Ein Schweizer Dozent teilt der Polizei mit, er habe sich am Abend des Verbrechens in Lumumbas Pub aufgehalten, und bestätigt damit das Alibi des kongolesischen Musikers.
     
    15 .  NOVEMBER 2007 : Die Spurensicherung findet DNA -Spuren von Meredith Kercher und Amanda Knox auf einem Küchenmesser, das in Sollecitos Wohnung sichergestellt wurde.
     
    19 .  NOVEMBER 2007 : Der 22-jährige Ivorer Rudy Hermann Guedé wird als der »vierte Mann« bezeichnet. Die Polizei fahndet per internationalem Haftbefehl nach ihm.
     
    20 .  NOVEMBER 2007 : Lumumba wird freigelassen, während Rudy Hermann Guedé von der deutschen Polizei in einem Zug auf der Strecke Koblenz–Mainz festgenommen wird.
     
    6 .  DEZEMBER 2007 : Guedé wird nach Italien gebracht und noch am selben Abend ins Gefängnis Capanne verbracht. Er erklärt sich für unschuldig.
     
    14 .  DEZEMBER 2007 : Die Trauerfeier für Meredith Kercher wird in der Kirche