Der Engel Schwieg.
kennen wir uns nicht?«
»Wir kennen uns«, sagte Hans lächelnd und wandte sich zur Tür.
»Bleiben Sie!« rief Fischer. Hans blieb stehen.
Fischer schloß den Mund, um den Krampf in sich hineinzu-
würgen, dieses Zucken, das ihn veranlaßte, gegen seinen Willen
mit den Zähnen zu knirschen: während dieser aufgezwungenen
Stummheit zischte er sich innerlich die Flüche vor, die er neu entdeckt hatte – er kaute mit Genuß diese Ausdrücke, die in ihm nachdrängten, diese Literatur der Verzweiflung, und plötzlich stürzte er sich auf den Mann – er las die vollkommene Überra- schung in dem entsetzten Gesicht und nützte die erste Sekunde, ihn gegen die Wand zu drücken, ihm die Arme abzuklemmen, während die freie Hand zielbewußt in die linke Tasche des Fremden drang – er lachte laut, als er den Fetzen in seiner Hand fühlte, und rannte hinters Bett; dort wartete er kampfbereit, die Hände wie zum Boxen erhoben, aber die Gestalt an der Wand rührte sich nicht.
»Für Sie ist es wertlos – wollen Sie Geld?« rief Fischer. »Üb- rigens«, fügte er leiser hinzu, »glaube ich nicht, daß es echt ist.«
Er bekam keine Antwort; der Mann, dessen Namen er nicht kannte, dessen Gesicht er einmal flüchtig gesehen zu haben glaubte, löste sich langsam von der Wand und ging zur Tür…
Hans stockte, als er die große Vorhalle erreichte, die voll Licht
war: links stand der lächelnde Engel, der ihn damals in der Nacht begrüßt hatte. Hans blieb stehen: die Figur schien ihm zu winken oder ihm von der Seite zuzulächeln, und er wandte sich ihr langsam zu: aber die starren Augen blickten an ihm vorbei, und die vergoldete Lilie rührte sich nicht, nur das Lächeln schien an ihn gewandt, und er lächelte leise zurück; jetzt erst, wo die Figur im vollen Licht stand, sah er, daß das Lächeln des Engels ein schmerzliches Lächeln war.
Er wandte sich erst um, als er Reginas Stimme hörte, und er erschrak, als er die Freude in ihren Augen sah.
»Nun«, fragte sie, »was ist?«
»Sie ist tot«, sagte er.
»Tot?« Er nickte.
»Es macht nichts«, sagte sie, »wir werden andere Zeugen fin- den.«
Er nahm ihren Arm und ging mit ihr die Treppe hinab.
XIX
–––––––––
Der große Marmorengel schwieg, obwohl der Pfarrer ihn an- blickte und auf ihn herabzusprechen schien; er hatte sein Profil im schwarzen Schlamm verborgen, und die Abflachung an der Stelle seines Hinterkopfes, wo er sich von der Säule gelöst hatte, erweckte den Eindruck, als sei er niedergeschlagen worden, sei nun an die Erde geschmiegt, um zu weinen oder zu trinken, sein Gesicht lag in einer Schlammpfütze, seine starren Locken waren mit Dreck bespritzt, und seine runde Wange trug einen Lehm- flecken; nur sein bläuliches Ohr war makellos, und ein Stück seines zerbrochenen Schwertes lag neben ihm: ein längliches Stück Marmor, das er weggeworfen hatte.
Er schien zu lauschen, und niemand vermochte zu erkennen, ob sein Gesicht Hohn ausdrückte oder Schmerz. Er schwieg. Auf seinem Rücken bildete sich langsam eine Pfütze, und seine Fuß- sohlen glänzten feucht und bläulich. Manchmal auch, wenn der Pfarrer das Standbein wechselte und ihm etwas näher trat, schien es, als wolle der Engel ihm die Füße küssen; aber er hob sein Gesicht nicht aus dem Dreck hervor, er lag da, vorschriftsmäßig gedeckt durch einen Lehmwall wie ein Soldat…
»So wollen wir nun«, rief der Pfarrer, »bedenken, daß es an uns ist, zu trauern und nicht an ihr.« Er deutete mit seinen dicken weißen Händen in die Gruft, wo zwischen zwei ionischen Mar- morsäulen der Sarg stand, bedeckt mit einem schwarzen Tuch, von dessen Quasten der Regen tropfte. »Wir wollen bedenken«, rief der Pfarrer, »daß der Tod der Anfang des Lebens ist…«
Der Meßdiener hinter ihm hielt krampfhaft den dunklen Horn- griff des Regenschirms fest und bemühte sich, ihn so zu drehen und zu schwenken, wie der Pfarrer sich bewegte, aber manchmal waren die rhetorischen Wendungen so plötzlich, daß er nicht folgen konnte, und sooft ein Tropfen das Haupt des Pfarrers traf, warf er einen strafenden Blick nach hinten, wo der blasse Junge
den Schirm hielt wie einen Baldachin…
»Bedenken wir«, rief der Pfarrer dem Marmorengel zu, »daß
auch wir, auch wir immer an der Schwelle des Todes stehen. Media in vita, sagt ein mittelalterlicher Vers. Denken wir an sie zurück, unsere teure Tote – geliebt, gesegnet mit irdischen Gü- tern, lebend in einer großen und starken
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