Der Engel Schwieg.
(Kap. XI und XV) und werden, unter wörtlicher Verwendung ganzer Passagen, in die neuen Erzählkontexte transponiert (Kap. 4 und 10). Die Nachweise aufgegriffener Motive und wiederverwendeter Er- zählpartikel lassen sich fast beliebig vermehren; beispielhaft genannt sei hier noch die Reflexion über die ›Gabe‹, sich an nur
einmal flüchtig gesehene Gesichter zu erinnern (Kap. IX/9), die
Fred Bogner von Hans Schnitzler geerbt hat – wie man denn überhaupt aufgrund zahlreicher paralleler Gestaltungszüge in ihm und seiner Frau das älter gewordene Paar Hans Schnitzler – Regina Unger wiederzuerkennen glaubt.
Die dargestellten Sachverhalte, namentlich die extensive Ver- wendung vorgeformter Erzählpartien im späteren Roman, stellen im Schaffen Bölls einen Sonderfall dar. Von grundsätzlicherer
Bedeutung ist, daß der Autor in Und sagte kein einziges Wort die
Geschichte Regina Ungers und Hans Schnitzlers einschließlich des sozialen Umfeldes aktualisierend ›fortgeschrieben‹ hat und daß zudem der erste in der Nachkriegszeit spielende Roman in vielfacher Hinsicht zum Ausgangspunkt des Fortschreibungs- prozesses wird, in dem sich kontinuierlich die Aneignung und kritisch-engagierte Verarbeitung erlebter deutscher Nachkriegs- geschichte vollzieht.
Der Engel schwieg exponiert zahlreiche Themen, Probleme, Motive und Figuren, die Böll in späteren Werken aufgreift und entfaltet. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die zunehmend verschärfte Kritik an der Entwicklung des bürgerlichen Nach- kriegskatholizismus. Der Dr. Fischer des Romans, schon vor dem Krieg inoffizieller Berater des Kardinals, später Herausge- ber einer katholischen Zeitschrift, Sammler sakraler Kunst und Adressat bischöflicher Gunstbezeigungen, ist eine frühe Präfigu- ration der Repräsentanten des Verbandskatholizismus – nament- lich des Madonnen-Sammlers Dr. Kinkel –, die Böll in Ansich- ten eines Clowns karikierend zeichnen wird. Andeutungsweise vorweggenommen ist im Engel auch die in Ansichten verfochte- ne, gegen jedwede »Verrechtlichung« von Liebe und Sexualität opponierende Auffassung des Ehesakraments: Obwohl weder standesamtlich noch kirchlich getraut, bezeichnet Hans Schnitz- ler – nach Konsens und Vollzug (Kap. XIV) – im Beichtge- spräch Regina als ›seine Frau‹, was der Überzeugung seines literarischen Nachfahrs entspricht, daß sich die Partner gegensei- tig das Sakrament spenden, dieses sich also nicht in den Händen der Kirche befindet. Eine weitere Parallele ergibt sich durch die
Verwendung des Bettler-Motivs, dem in beiden Werken konsti-
tutive Bedeutung zukommt. Die Existenzform, in der Schnitzler, der heimgekehrte Deserteur, sein Leben in der Trümmerwelt Kölns beginnt, entspricht der des Aussteigers Schnier im Schlußbild der Ansichten, das ihn als Straßensänger, als singen- den Bettler auf der Bonner Bahnhofstreppe zeigt. Die angedeute- ten Bezüge bezeugen die Kontinuität der Problematik im Werk Bölls, nicht zuletzt auch die thematisch-motivischen Korrespon- denzen zwischen den am Anfang und Ende der Adenauer-Ära geschriebenen, diese Epoche umgreifenden Romanen.
Der Engel schwieg nimmt eine Schlüsselposition im Werkzu- sammenhang ein. Unabhängig davon verdient der Roman Inter- esse als überaus charakteristisches Exempel der Heimkehrer- und Trümmerliteratur und als literarisches ›Dokument‹ über deutsche Zustände und Befindlichkeiten im Mai 1945. Er führt den Leser auf verschiedene Schauplätze einer in Trümmern liegenden Stadt (nie genannt, aber unverkennbar: Köln), in Elendsquartiere, Nothospitäler und zerbombte Kirchen. Er zeigt Menschen, die, vom Krieg beschädigt und wie gelähmt, zu- nächst die Toten beneiden und erst allmählich wagen, das Leben wieder anzunehmen, und stellt dagegen solche, die »politisch immer richtig liegen« und ihre Geschäfte weiter betreiben, als sei nichts geschehen – Protagonisten der Restauration, die eine
»auf Besitzerwerb und Familienegoismus begründete neue Ge- sellschaft« kreiert (Drei Tage im März, 2. Tag). Bei der Konzep- tion des Romans hat Böll ganz offensichtlich in den Jahren bis 1949/50 – auch im Zusammenhang mit der Währungsreform – gemachte Erfahrungen in die ersten Nachkriegswochen zurück- projiziert, oder, anders ausgedrückt, in der sozialkritisch akzen- tuierten Realitätsdarstellung spätere Entwicklungen antizipiert. Dies dokumentiert sich vor allem in dem in der Sequenz der Schlußkapitel dargestellten
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