Der Engel Schwieg.
Wo warst du, Adam? – »vorgestern abgegeben und heute jedes Kapi- tel einzeln an verschiedene Zeitungen und Zeitschriften auf die Reise geschickt«. Das praktizierte Verfahren, verständlich und vertretbar angesichts der reigenhaften Struktur des Kriegsro- mans, wird nun in modifizierter Form auf Der Engel schwieg übertragen. Einzelne Episoden, darunter mehrere Rückblenden,
werden von Böll aus dem Roman extrahiert und, teilweise un-
verändert oder nur geringfügig gekürzt, zur Veröffentlichung angeboten. Zeitlich fixieren läßt sich dieser Vorgang auf die Tage unmittelbar nach Rückerhalt des Romanmanuskripts; denn schon am 6. August 1951 schickt der Nordwestdeutsche Rund- funk (Köln) drei für die Sendung ›Zur Nacht‹ eingereichte Ma- nuskripte – Die Liebesnacht, Der Marmorengel und Der Ge- schmack des Brotes – zurück mit der Begründung, sie seien »alle drei für die 5-Minuten-Kürze dieser Sendung zu anspruchsvoll«. Zur Veröffentlichung gelangen in den folgenden Wochen und Monaten: der nachträglich vorangestellte erste Abschnitt und weitere Teile von Kapitel I schon im August in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ (Skizze; Der Geschmack des Brotes); der Anfang von Kapitel XIII im September in der ›Welt‹ (späterer Titel: Besichtigung); das gekürzte Schlußkapitel im Mai 1952 in
›Die Literatur‹ (Der Engel). Lediglich die Postkarten-Episode aus Kapitel II erfährt eine starke Überarbeitung; die Erzählung erscheint, in französischer Übersetzung, erstmals im Mai 1952. Für die Kapitel V entnommene Liebesnacht, vom NWDR als
»im Thema unseren Hörern nicht zumutbar« zurückgewiesen, und die aus Kapitel XIV separierte Dachrinne, gleichfalls Schil- derung eines nächtlichen Beisammenseins und als solche su- spekt, konnten bislang zeitgenössische Veröffentlichungen nicht ermittelt werden; zum Druck gelangten beide Texte 1983 im Sammelband Die Verwundung. – In allen Ausgaben der Erzähl- prosa, die sich um chronologische Textanordnung bemühen, sind die genannten Geschichten in die Jahre zwischen 1948 und 1955 eingruppiert, also auf einen Zeitraum von acht Jahren ver- teilt. Es bedarf kaum einer näheren Ausführung, daß sich aus den Fehldatierungen und aus der Unkenntnis sowohl des Entste- hungszusammenhangs als auch der fiktionalen Handlungszeit erhebliche Konsequenzen für die Deutung ergeben. Genügen mag hier der Hinweis, daß der Redakteur des NWDR den in aßen Sammelausgaben mit dem Entstehungsdatum 1955 abge- druckten Text Der Geschmack des Brotes schon 1951 als beina- he anachronistisch empfindet und in der Ablehnungsbegründung
vom 6. August entsprechend formuliert: »aus der heutigen Le-
bens-Situation nicht mehr völlig nachvollziehbar«. Überdies wird durch die auf irriger Datierung basierende Textanordnung in den Ausgaben der Nachvollzug des durch Kontinuität und Weiterentwicklung gekennzeichneten »Fortschreibungsprozes- ses«, von dem Böll seit Ende der sechziger Jahre immer wieder gesprochen hat, nicht, wie intendiert, ermöglicht, sondern nach- gerade verhindert.
Interessante entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge und intertextuelle Bezüge ergeben sich auch für den 1953 veröffent- lichten Roman Und sagte kein einziges Wort Handlungselemen-
te, Motive und Figuren wie auch ganze Erzählpassagen des En-
gel- Manuskripts werden in bearbeiteter und adaptierter Form in den neuen Roman übernommen. Dies gilt insbesondere hinsicht- lich des mit Sympathie gezeichneten Priesters mit dem »Bauern- gesicht« (aus Kap. XIII und XVI): für die Darstellung seines Äußeren bis hin zur Gestik beim Beichthören, seiner ärmlichen Wohnverhältnisse und Lebensbedingungen und nicht zuletzt seines seelsorgerischen Engagements, das ihn in beiden Roma- nen zum Repräsentanten einer Nächstenliebe praktizierenden
»lebendigen Kirche« werden läßt. Die Mehrzahl der Übernah- men erfolgt in jene Szene von Kapitel 8, in der über Käte Bo-
gners Kirchenbesuch und Beichte berichtet wird; zu Beginn
dieser Erzählpartie ist überdies die Eingangsszene des Engel- Romans verarbeitet und in allen wichtigen Zügen parallel gestal- tet: die Begegnung mit dem »steinernen Engel mit wallenden Locken«, der sich bei näherem Betrachten als gipsernes Produkt der »Frömmigkeitsindustrie« entpuppt. Die Darstellung des Kreislaufzusammenbruchs von Käte Bogner sowie die Schilde- rung ihres zermürbenden Kampfes gegen Schmutz und Kalk sind gleichfalls im Engel-Roman vorgebildet
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