Der Engel von Santa Marguerita
Wissenschaftler, längst kein Arzt mehr. Ihn interessierten nur die theoretischen Ergebnisse seiner Versuche. Die Menschen waren ihm egal.“
„Collins dachte vermutlich genauso?“
„So ähnlich.“
Ich schwieg eine Weile, und dann fragte ich ihn, was er von Doktor Russell Garland halte.
Er blickte mich überrascht an.
„Als Arzt — oder als Mensch?“
„Mich würde beides interessieren.“
Er stand auf und ging hin und her, während er sprach, wobei er die Hände mit den Fingerspitzen aneinanderlegte.
„Er ist seit dreißig Jahren unser Hausarzt. Er war früher, soweit ich das beurteilen kann, ein hervorragender Diagnostiker, und vielleicht ist er das heute noch. Aber er ist eben ein alter Herr und hält nichts von modernen Methoden.“
Er schwieg einen Augenblick, und ich hätte gern gesagt, daß das in meinen Augen kein unbedingter Fehler sei; aber ich wollte ihn nicht aus dem Konzept bringen.
„In den letzten Jahren hat er sehr nachgelassen. Er vernachlässigte sich und seine Praxis.“
„Konnte er sich das denn finanziell leisten?“
„Das weiß ich nicht.“
„Aber Ihr Vater hatte doch offenbar Vertrauen zu ihm?“
„Ich glaube schon. Sie waren alte Studienkollegen, und mein Vater war ebenfalls sehr konservativ. Niemals hätte er einen andern Arzt zu Rate gezogen.“
„Und Sie selber? Was für ein Urteil hatten Sie sich über die Krankheit Ihres Vaters gebildet?“
„Doktor Garland hatte zweifellos recht“, sagte er nachdenklich, „es waren alle Symptome von Leberkrebs vorhanden. Aber —“
„Aber?“ fragte ich gespannt.
Er machte eine müde Handbewegung.
„Hat ja jetzt keinen Sinn mehr“, sagte er.
„Was wollten Sie sagen, Doktor?“
Er gab sich einen Ruck.
„Ich glaube, daß er nicht so schnell hätte sterben müssen, wenn ich dabei gewesen wäre.“
„Sie waren nicht da, als Ihr Vater starb?“
„Nein. Ich fuhr nach Chikago zu einer Ärztetagung. Am dritten Tag, als ich dort war, bekam ich das Telegramm.“
„Wollen Sie damit sagen, daß Ihrer Ansicht nach Ihr Vater nicht so krank gewesen ist, daß mit seinem Tode zu rechnen war?“
„Ich habe nicht damit gerechnet. Aber das besagt natürlich nichts. Jeder kann sich irren. Sicherlich hat Doktor Garland getan, was möglich war.“
„Kamen Sie sofort zurück?“
„Sofort. Mit dem nächsten Flugzeug.“
„Wurde Ihr Vater, — äh — ich meine, gibt es eine Bestätigung für Doktor Garlands Diagnose?“
Er blickte mich sehr erstaunt an.
„Nein“, sagte er, „seine Diagnose war bestimmt richtig. Aber warum fragen Sie das alles?“
„Man muß sehr viel fragen, wenn man einen Mörder sucht, Doktor. Man muß sich ein Bild machen können, muß alles übersehen, nicht nur die Details. Ich hatte, — in dieser Richtung, — keinen besonderen Grund. Behandelte Doktor Garland übrigens auch die anderen Familienmitglieder?“
„Ja, er ist häufig bei meiner Mutter. Ich glaube aber, sie läßt ihn mehr aus Langeweile kommen.“ Er lächelte mir mit dünnen Lippen zu und fuhr fort: „Als Sohn oder Bruder ist man niemals Arzt, man ist nur Sohn oder Bruder, wissen Sie.“
Ich nickte und sagte:
„Ich möchte jetzt noch etwas wissen, Doktor: wo wohnt Miß Julia Miles?“
Er schob die Hände unter seinen weißen Arztkittel in die Hosentaschen und schüttelte den Kopf.
„Was hat die nun mit der ganzen Sache zu tun?“
„Keine Ahnung“, sagte ich, „wirklich, ich habe keine Ahnung. Aber ich muß alles versuchen. Vielleicht hat sie irgend etwas gesehen oder gehört, was ihr unwichtig erscheint, mir aber einen Fingerzeig gibt.“
„In Norman, bei Gardena. Wenn Sie die Normandie Avenue hinauffahren bis dahin, wo sich der Dominguez Channel verbreitert, sehen Sie schon das große Hillers-House. Es ist blau mit roten Balkonen.“
„Danke“, sagte ich, „vielleicht werde ich sie gelegentlich besuchen. Sie arbeitet doch noch bei Ihnen?“
„Selbstverständlich.“
„Hat sie sich in letzter Zeit irgendwie verändert?“
Er dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein. Sie ist das, was man ein Arbeitstier nennt. Man merkt ihr niemals an, daß sie ein Privatleben besitzt.“
„Ich könnte sie ja auch morgen früh sprechen“, sagte ich.
Er lachte ein wenig.
„Morgen kommt sie nicht“, sagte er, „morgen ist Labour Day.“
„Oh, verflucht!“ rutschte es mir heraus. Ich hatte vergessen, daß es der erste Montag im September war und unsere Regierung den Tag der Arbeit dazu
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