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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Kloster, in dem Victor seine ersten fünf Lebensjahre zugebracht hatte, befand sich am Fuße des Altenbergs, von wo aus eine schmale, steinerne Treppe zum Kalvarienberg führte. Die Patienten hatten die Mauern des Klostergebäudes nie verlassen dürfen, deshalb war Victor nie dort gewesen. Und so wusste er an jenem Tage nicht einmal, dass er sich so nah an der Stätte seiner frühesten Kindheit befand. Erst ein paar Jahre später sollte er dahinterkommen. An jenem Tag hatte er andere Dinge im Kopf.
    Es lässt sich behaupten, dass alles mit Hohngelächter anfing. Dass er darin wiedererkannte, was der Evangelist Lukas umschrieben hatte als: ihn verhöhnen und verspotten.
    Victor konnte nicht Fahrrad fahren.
    Die zwei Geistlichen wollten die etwa fünfzehn Kilometer lange Strecke von Eupen nach La Chapelle mit den siebzehn Schülern per Fahrrad zurücklegen. Wer kein eigenes Rad hatte, konnte sich von Schülern aus den Jahrgängen darunter eins leihen. Victor bekam ein Rad von einem Jungen aus der Vierten.
    Als die Gruppe losziehen wollte, mit Bruder Rombout an der Spitze und Pater Norbert als Schlusslicht, blieb Victor wie angewurzelt stehen, das Rad zwischen den Beinen, den Lenker in den Händen, die Füße auf dem Boden.
    »Los geht’s, Victor Hoppe«, befahl Pater Norbert und tippte ihm mit den Fingerspitzen auf den Hinterkopf.
    Aber Victor blieb stehen, den Blick zu Boden gerichtet, obschon Bruder Rombout und die anderen Schüler die ersten Meter bereits zurückgelegt hatten.
    »Victor, Gott wird nicht für dich in die Pedale treten!«
    Erst war Pater Norbert noch gut gelaunt. Das Böse in ihm war noch nicht erwacht. Als er aber merkte, dass Victor sich immer noch nicht regte, rief er Bruder Rombout zu, er solle warten, und zog dem aufsässigen Schüler zwischen Daumen und Zeigefinger das Ohr lang.
    Die anderen fingen an zu lachen. Zunächst war es kaum mehr als ein Kichern, weil alle froh waren, nicht selbst das Opfer zu sein.
    Vielleicht merkte der Pater irgendetwas, denn trotz der zunehmenden Kraft, mit der an Victors Ohr gezogen wurde, setzte dieser sich nicht in Bewegung. Aber vielleicht war es auch schlichtweg eine List, um Victor herauszufordern. Jedenfalls sagte Pater Norbert laut und mit leichtem Spott in der Stimme: »Ich glaube, Victor Hoppe kann gar nicht Rad fahren.«
    Das Gekicher der anderen Schüler wurde lauter. Der Pater fing an zu grinsen.
    Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten das Volk.
    Bruder Rombout war von seinem Fahrrad gestiegen und ging auf Victor zu. Inzwischen fuhr Pater Norbert fort mit seinem Geschrei: »Wenn Victor Hoppe nicht Rad fahren kann, dann muss er eben zu Fuß auf den Kalvarienberg!«
    Einige der Schüler johlten.
    Sie schrien aber noch mehr und sprachen: Lass ihn kreuzigen!
    Mit einem bösen Blick mahnte Bruder Rombout die Kinder zum Schweigen. Pater Norbert ließ endlich Victors Ohr los und rollte mit seinem Fahrrad einen Meter zurück.
    Bruder Rombout beugte sich zu Victor hinunter und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    »Victor, bist du schon mal Fahrrad gefahren?« Seine Stimme war sanft.
    Victor schüttelte den Kopf. Das Gelächter, das sich erhob, verstummte wieder, als der Bruder den anderen Schülern einen strengen Blick zuwarf.
    »Dann muss er eben hier bleiben«, sagte Pater Norbert schroff.
    Bruder Rombout schüttelte den Kopf.
    »Er kann bei mir hinten drauf.«
    Die Schüler sahen alle den äußerst erstaunten Blick des Paters, aber Bruder Rombout kümmerte sich nicht darum.
    »Bring das Rad mal in den Schuppen zurück, Victor. Und dann fahren wir beide zusammen.«
    So fuhren sie nach La Chapelle. Bruder Rombout vorneweg, mit Victor Hoppe auf dem Gepäckträger, der sich mit den Händen an der Unterseite des Sattels festhielt. Er saß zusammengekauert, verkrampft, schaute weder nach links noch nach rechts. Dennoch wusste er, dass seine Mitschüler ihn aus spöttischen Augen begafften und ihm die ganze Fahrt über, bis sie die Fahrräder zu Beginn des Kreuzweges abstellten, feixende Grimassen schnitten.
    Ihn verhöhnten und verspotteten.
    So fing es an.
     
    Jesus wird zum Tode verurteilt. 1. Station.
    So stand es dort in drei Sprachen zu lesen: Deutsch, Französisch und Niederländisch.
    Victor sah das Relief über der Schrift an und erkannte alles wieder.
    Die Hohepriester, die die Menge aufhetzten.
    Die Menge, die rief: »Kreuzige ihn!«
    Pontius Pilatus, der seine Hände wusch.
    Und Jesus, der gefesselt und stumm sein Schicksal

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