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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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erlitt.
    Die Szene war in weißen Sandstein gehauen und prangte über einem Altar aus schwarzem Marmor. Ein schmiedeeisernes Gitter schirmte beides von den Pilgern ab. Drumherum hatte man eine Grotte errichtet, mit Lavasteinen aus dem Eifelgebirge, erzählte Bruder Rombout.
    Dann erteilte er Pater Norbert das Wort. Bevor dieser mit dem ersten Gebet anfing, ermahnte er die Schüler erneut, während des gesamten Kreuzwegs zu schweigen, vierzehn Stationen lang. Lediglich zum Beten durften sie ihre Stimmen erheben.
    »Dieser heilige Ort verträgt nur heilige Worte«, sagte der Pater.
    Heiliger Ort. Heilige Worte. Es hallte in Victors Kopf nach.
    Dann schlug der Pater sein Gebetbuch auf und sagte: »Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich.«
    Und die Schüler antworteten im Chor: »Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst.«
    Daraufhin sprach Pater Norbert das Gebet, das zu der ersten Station gehörte, und am Ende sagten alle Schüler gemeinsam das Vaterunser auf.
    Einen geschlängelten Asphaltweg entlang gingen sie zur zweiten Station, während Pater Norbert unablässig aus dem Gebetbuch vorlas, das er mit ausgestreckten Armen wie einen toten Vogel vor sich her trug.
    Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern. 2. Station.
    Wieder starrte sich Victor die Augen aus den Höhlen. Die Grotte. Das Gitter. Der Altar. Die Aufschrift. Und vor allem die Skulptur.
    Durch das Hochrelief sah es aus, als könnten die Figuren jeden Moment zum Leben erwachen und aus der Szene heraustreten, als stünden sie dort nur still, solange Menschenblicke auf ihnen ruhten. Aber dass die Figuren nicht echt sein konnten, wusste Victor, dafür waren sie zu klein. Sie waren sogar noch kleiner als er selbst. Sonst hätte er sie ohne weiteres für lebendig gehalten.
    »Amen.«
    Trotzdem blickte er zurück, als sie zur nächsten Station weitergingen, und er tat dies so lange, bis er die Skulpturen nicht mehr sehen konnte und sicher war, dass sie sich nicht bewegt hatten.
    So lief er mit der ganzen Gruppe von Station zu Station, und so sah er Jesus dreimal fallen. Alle drei Male hatte er sich dazu gedrängt gefühlt, ihm wieder aufzuhelfen.
    »Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich.«
    »Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst.«
    Sie waren bei der elften Station angekommen.
    Jesus wird ans Kreuz genagelt.
    »Angezogen von deinen Wunden …«, hörte Victor den Pater beten, während er zu den erhobenen Hämmern aufsah, die gleich die Nägel durch Hände und Füße Jesu schlagen würden. Dieses eine Mal war Victor doch erleichtert, dass die Bilder nicht lebendig wurden. Aber dennoch würde Jesus bei der nächsten Station am Kreuz hängen. Das wusste Victor, und darum betete er das Vaterunser nicht mit, denn durch Gottes Schuld hatte Ihn dieses Schicksal ereilt. Er hatte seinen Sohn seinem Schicksal überlassen.
    »Amen.«
    Diesmal sah Victor sich nicht um, als sie weiterliefen. Wenn er sich umsah, dann würden die Figuren sich womöglich doch bewegen. Diesmal schon, da war er sicher, und dann würden die Hämmer auf die Nägel hinabsausen. Das wollte er nicht sehen.
    Er trödelte ein bisschen, denn genauso wenig wollte er Jesus am Kreuz hängen sehen. Aber Bruder Rombout legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft nach vorne, in Richtung der anderen Schüler. Der Weg machte eine scharfe Biegung, und dann kamen sie auf dem großen Platz vor der zwölften Station an. Victor stand staunend da.
    Lebensgroß hing Jesus am Kreuz. Nicht in der Grotte, sondern oben drüber. Nicht im Hochrelief, sondern ganz frei, als wäre er tatsächlich aus der Szene herausgenommen und lebend an das Kreuz auf dem Berg gehängt worden, wo er gerade erst gestorben war.
    Und links und rechts von Jesus standen noch zwei Kreuze, an denen lebensgroß zwei weitere Gekreuzigte hingen. Und zu Jesu Füßen, auch lebensgroß und lebensecht, befanden sich vier Personen, von denen Victor sicher auch gewusst hätte, wer sie waren, aber denen er nun keine Aufmerksamkeit schenkte.
    Er sah lediglich Jesus am Kreuz. Groß und grau. Als wäre Staub aus dem Himmel auf ihn herabgerieselt.
    Was schon zuvor in seinem Kopf in Gang gekommen war, nach dem Spott und Hohngelächter, setzte sich nun fort. Eine Zeile zog die nächste nach sich.
    Der du den Tempel Gottes zerbrichest, und bauest ihn in dreien Tagen, hilf dir selber! Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz! Desgleichen auch die Hohenpriester

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