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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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beschlichen ihn Zweifel. Fünfzehn Monate kannte er Victor inzwischen, und in all der Zeit hatte er nie einen Witz gemacht. Er hatte auch nie über die Witze anderer gelacht, alles fasste er immer todernst auf. Bisher hatte der Ärztliche Direktor sich darüber keine weiteren Gedanken gemacht, aber vielleicht meinte Victor ja, was er über Gott sagte. Rex selbst glaubte nicht an Gott. Er war auch nicht religiös erzogen worden. Seine Eltern waren nicht gläubig gewesen und hatten ihm immer die freie Wahl gelassen. Das war für ihn ein Segen gewesen, wie er sehr wohl wusste, nicht zuletzt bei seiner Entscheidung, Wissenschaftler zu werden.
    »Du brauchst mir diese Frage nicht zu beantworten, aber …«, fing er an, und vielleicht hoffte er sogar, dass die Antwort ausbliebe, »… aber glaubst du eigentlich an Gott?«
    »Als den Schöpfer allen Lebens, ja«, antwortete Victor, als sei das selbstverständlich.
    »Und wer hat Gott dann geschaffen?«
    »Der Mensch.«
    Der Ärztliche Direktor war kurz aus dem Konzept gebracht. Gott hatte den Menschen geschaffen, und der Mensch hatte Gott geschaffen, darauf lief es hinaus. Das eine beinhaltete das andere, und das andere schloss das eine nicht aus. Es war im Grunde unglaublich einfach, genauso einfach wie alle anderen Erklärungen Victors auch. Rex musste an die Schlange denken, die sich selbst in den Schwanz beißt und immer mehr von sich selbst auffrisst, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt. Logisch war das möglich, aber praktisch nicht. In seinen Genetik-Vorlesungen pflegte er anhand dieses Beispiels den Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft zu erläutern. Die Religion verlangte keine Beweise, für die Wissenschaft zählte nichts anderes. Er selbst hatte Religion und Wissenschaft immer als zwei verschiedene Dinge gesehen, zwischen denen sich eine unüberbrückbare Kluft befand. Aber Victor sah das wohl anders. Für ihn gab es offenbar keine Kluft, oder vielleicht doch, aber dann stand er selbst auf der Brücke, die darüber hinwegführte. So erklärte sich auch seine Handlungsweise, vor allem aber seine Denkweise. Wie er selbst schon oft gesagt hatte, musste man manche Dinge einfach nehmen, wie sie waren. Da sprach aus ihm der Gläubige und nicht der Wissenschaftler. Und deshalb war ihm bei seinen Forschungen ein einziger Beweis schon mehr als genug, und eine Wiederholung seines Versuchs fand er ganz und gar überflüssig.
    »Ich glaube, ich fange allmählich an, dich zu verstehen, aber das bedeutet noch nicht, dass ich mit dir übereinstimmen kann. Ich muss darüber nachdenken.«
    Victor nickte. Sein Gesicht verriet keine Sekunde lang, was er dachte.
    »Ich gebe dir so schnell wie möglich Bescheid«, beendete Rex das Gespräch und fügte dann noch hinzu: »Wenn die Welt bis dahin nicht untergeht.«
    Victor runzelte die Augenbrauen. Lächelnd stand Rex auf und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.
    »Das war ein Scherz.«
     
    Rex Cremer meinte, Victor Hoppe durchschaut zu haben. Aber wenn man sich Victors Inneres als aus mehreren Schichten bestehend vorstellte, hatte er höchstens ein paar der äußersten durchdrungen. Das Beispiel der Schlange, die sich selbst auffrisst, passte gut, aber darüber hätte er nicht hinauszugehen brauchen. Er ging davon aus, dass Victor bewusst handelte, aber das war nicht der Fall. Es war eigentlich viel einfacher. Logischer. Mehr als die Schlange brauchte man nicht. Victor war der Schlangenkopf und ihr Schwanz zugleich. Er fraß und wurde aufgefressen. Das war alles. Eine Wahl hatte er nicht.
     
    Victor hatte die Entscheidung Rex Cremers nicht abgewartet. Er hatte bereits mit Körperzellen ausgewachsener Säugetiere zu experimentieren angefangen. Eines dieser ausgewachsenen Säugetiere war er selbst. Er hatte einen Quadratzentimeter der oberen Hautschicht von seinem Oberschenkel abgekratzt und die noch lebendigen Zellen davon in verschiedenen Substanzen weitergezüchtet. Dasselbe hatte er mit Leberzellen einer ausgewachsenen Maus und mit Zellen aus dem Labmagen eines Stiers getan. Er hatte überlegt, ob er den Ärztlichen Direktor informieren musste, was er genau vorhatte, und war zu dem Schluss gekommen, dass es dafür noch zu früh war. Er würde lediglich erzählen, dass er ausgewachsene Tiere klonen wollte. Mehr nicht. Dann hätte er zumindest nicht gelogen.
     
    Die Lösung, die Rex Cremer sich überlegt hatte und die von der Professorenschaft gutgeheißen worden war, sah so aus, dass er selbst versuchen

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