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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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untersucht und festgestellt, dass ein Teil davon tot war, während ein anderer zwar noch lebte, aber so geschwächt war, dass die jeweilige spezifische Funktion aufgehoben war und die Zellen auf das GO-Stadium regrediert waren. Sie hatten sich also wieder in ihrem Anfangsstadium befunden, so als hätten sie sich erst ein paar Mal geteilt, und genau danach hatte Victor zwei Jahre lang gesucht. Nun musste er lediglich noch die genaue Menge an Nährlösung bestimmen, die die Zellen brauchten, um gerade noch am Leben zu bleiben, damit er sie dann kontrolliert ins GO-Stadium zurückversetzen konnte.
    Rex hatte Victors Bericht mit wachsendem Erstaunen zugehört und schließlich gesagt, genau darum drehe sich alles in der Wissenschaft: außergewöhnliche Zufälle in verlässliche Gesetzmäßigkeiten zu verwandeln.
    Victor hatte darauf entgegnet: »Jetzt habe ich es wieder selbst in der Hand. Jetzt wird es auch nicht mehr lange dauern.«
    »Wie lange, Victor?«
    Mit einem genauen Datum konnte der Ärztliche Direktor die Ungeduld der anderen besänftigen.
    »Noch vor Jahresende.«
    Man schrieb den Juli 1983.
    »Das sind nur noch sechs Monate.«
    »Sechs Monate«, hatte Victor wiederholt, und seiner Stimme war nicht anzumerken gewesen, ob ihm das unendlich lang vorkam oder schrecklich kurz.
     
    Er würde noch einmal Kontakt aufnehmen. Er hatte sich aufgeschrieben, was er sagen wollte. Wort für Wort. Er hatte sich selbst die Sätze ein paar Mal laut vorgelesen und dabei probiert, sie so natürlich wie möglich klingen zu lassen.
    Er würde sie bitten, nach Aachen zu kommen. Zu einem Gespräch. Mehr würde er nicht preisgeben. Natürlich würden sie fragen, worüber er denn sprechen wolle. Über die Vergangenheit, würde er antworten. Aber auch über die Zukunft. Er würde sagen, die Wissenschaft habe in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht. Seine eigene Rolle dabei würde er nicht erwähnen. Er würde auch sagen, dass das, was früher einmal unmöglich erschienen sei, sich als lediglich schwierig erwiesen habe. Und dass das Schwierige inzwischen viel einfacher geworden sei. Das klang gut, fand er selbst.
    Dann rief er die zwei Frauen an. Eine der beiden nahm ab, und er nannte seinen Namen und fragte, wie es ihr und ihrer Freundin gehe. So stand es auf dem Spickzettel, den er neben das Telefon gelegt hatte. Sie antwortete jedoch so, wie es in seinem Szenarium nicht vorgesehen war.
    Ihre Freundin habe sich mit einer anderen davongemacht. Es sei noch nicht lange her. Ein, zwei Monate.
    Er verstummte unversehens. Nicht wegen ihrer Mitteilung an sich, sondern weil er auf keine passenden Worte zurückgreifen konnte. Zum Glück fing sie sofort an, ihm ihr Herz auszuschütten. Minutenlang redete sie ununterbrochen, sodass er nur zwischendurch ab und zu Verständnis zu bekunden brauchte.
    Schließlich unterbrach sie sich, mitten im Satz. Sie hätte ihn damit nicht belästigen sollen. Was sie für ihn tun könne?
    Wahrscheinlich wollte sie schlichtweg erfahren, warum er anrief, aber so fasste er es nicht auf. Er verstand es vielmehr wörtlich. Sie wollte etwas für ihn tun. Genau das wollte er selbst auch.
    »Ich möchte, dass Sie hierherkommen«, sagte er. Es klang nicht wie eine Bitte, sondern wie eine Forderung.
    Sie antwortete, sie habe Schwierigkeiten. Sie könne die Reise nicht bezahlen. Und den Aufenthalt erst recht nicht.
    Er versprach, alle Kosten zu erstatten. Geld sei kein Problem.
    Daraufhin fragte sie, worüber er denn sprechen wolle, und er konnte endlich wieder auf seinen Zettel zurückgreifen.
     
    Er hatte sie leicht überreden können. Da war ihr angeknackstes Selbstbewusstsein. Und ihre Eifersucht. Und da war ihre Einsamkeit. Das alles hatte zwei Monate lang in ihrem Innern gegärt. Insofern kam ihr der Vorschlag sehr gelegen. Das Kind würde sie in ihrer Weiblichkeit bestätigen, wäre ihrer Exfreundin ein Dorn im Auge und würde ihre Einsamkeit verscheuchen. Außerdem würde es ein Mädchen werden, und es würde ihr ähnlich sehen.
     
    Der Wind, der sich 1981 in Philadelphia erhoben und im Laufe von drei Jahren zu einem Sturm entwickelt hatte, erreichte Ende Februar 1984 das europäische Festland. Zu diesem Zeitpunkt erschien in Science ein Artikel mit der Überschrift »Instability of mouse blastomere nuclei transferred to enucleated zygotes to support development in vitro«. Geschrieben hatten ihn David Solar und James Grath, und sein Inhalt war vernichtend für Doktor Victor Hoppe. Schritt für

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