Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
Vom Netzwerk:
hinunterschlangen.
    »Esst nur, esst nur«, sagte sie, »dann kommt ihr wieder zu Kräften.«
    Als sie fertig waren, brachte sie sie ins Bett, obwohl ihr noch viele Fragen durch den Kopf gingen. Sobald die Kinder eingeschlafen waren, ging sie deshalb in das Zimmer, das sie entdeckt hatte, als sie nach einem frischen Bett für die Kleinen gesucht hatte.
    Es war ein Klassenzimmer mit Bänken, einem Pult, einer Schultafel und einer Europakarte an der Wand. Verwundert sah sie sich um und fing zögerlich an, ein bisschen herumzustöbern. In der obersten Schublade des Pultes fand sie Hefte, auf deren Vorderseite jeweils der Name eines der Kinder stand. Sie blätterte darin. Die Handschriften waren schwer lesbar, aber was sie entziffern konnte, überraschte sie. Die Kleinen konnten offenbar schon schreiben und rechnen. Sie entdeckte Wörter mit zwei, drei und noch mehr Silben. Sogar ganze Sätze, die teilweise über die ganze Breite einer Seite gingen, und zwar nicht nur auf Deutsch, sondern auch noch in einer anderen Sprache, die sie nicht kannte. Sie konnten auch schon mit Plus und Minus rechnen, auch in Zehnern und sogar in Hundertern.
    Das alles fand sie sehr sonderbar, aber auch bemerkenswert, und kurz fragte sie sich, wie sie, die nicht einmal ein Gymnasium besucht hatte, so intelligente Kinder hatte bekommen können. Aber dann gewann doch ihr Stolz die Oberhand.
    Dennoch stellten sich ihr einige Fragen. Wer hatte den Kindern Unterricht gegeben? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Doktor selbst das getan hatte. Sie fand es schon merkwürdig, dass sie überhaupt Unterricht bekommen hatten. Warum sollte er dafür Geld ausgegeben haben, wenn sie ihm sonst nichts bedeuteten?
    In einer Kinderbibel fand sie eine mögliche Antwort auf die erste Frage. Die Bibel lag in der untersten Schublade des Pultes. Sie hatte jahrelang keine Bibel mehr in der Hand gehabt, aber erinnerte sich noch an ein paar Geschichten, die man ihr seinerzeit in der Schule vorgelesen hatte, etwa an die Arche Noah und die Geschichte von Jesus und dem Zöllner. Sie war selbst auch gläubig, aber nur dann und wann, wie es ihr gerade passte. Als sie zum ersten Mal schwanger geworden war, hatte sie Gott gedankt, bei ihrer ersten Fehlgeburt hatte sie ihn verflucht. Und noch im selben Moment, als die Frucht mit Schmerzen und Gestank ihren Leib verlassen hatte, hatte sie ihn angefleht, ihr beizustehen.
    So auch beim zweiten Mal. Erst der Dank für das Wunder, das Wunder Gottes. Dann, als die Kinder auf der Welt waren, die Verleugnung, weil Gott sie erneut im Stich gelassen hatte. Später war sie ein paar Mal in eine Kirche oder Kapelle gegangen, um Kerzen anzuzünden, nicht für ihr eigenes Seelenheil, sondern für das der Kinder, die sie zurückgelassen hatte. Aber auch das hatte also nicht geholfen. Was war das für ein Gott, der selbst Kinder so leiden ließ? Das ging ihr durch den Kopf, während sie jetzt die Kinderbibel durchblätterte und ihren Blick über die bunten Bilder gleiten ließ. Und plötzlich entdeckte sie den Namen. Hinten drin, in einer zierlichen und flüssigen Handschrift. Sie las ihn sich ein paar Mal laut vor. War das vielleicht die Person gewesen, die den Kindern Unterricht gegeben hatte? Wenn dem so war, dann wollte sie sie treffen. So bald wie möglich.
    Als die Jungen wieder wach waren, fragte sie danach. Wenn auch nicht gleich, denn erst musste sie wieder die Wäsche bei ihnen wechseln.
    »Macht nichts, es ist nicht schlimm«, sagte sie, weil sie bemerkte, dass sie sich nun doch dafür schämten, es nicht zurückhalten zu können. Frische Laken, frische Anziehsachen. Als finge alles wieder von vorne an. Aber es stank bereits weniger.
    »Wisst ihr, wer Charlotte Maenhout ist?«
    Beide nickten sie.
    »Hat sie euch Unterricht gegeben?«
    Wieder ein Nicken.
    »Wo ist sie jetzt? Wo wohnt sie?«
    »Im … Himmel«, brachte Gabriel mühsam hervor.
    Die Antwort überraschte sie.
    »Ist sie tot?«
    Es war heraus, bevor sie sich klargemacht hatte, wie schmerzhaft es möglicherweise war.
    »Sie … ist … ein Engel«, antwortete Gabriel.
    »Michael auch! Michael auch! Schau!«, rief Raphael plötzlich. Reflexartig hob der Junge den Kopf und sperrte die Augen weit auf, als sähe er seinen gestorbenen Bruder vor sich. Im nächsten Moment sah es aus, als wäre ihm etwas in der Kehle stecken geblieben. Wie ein Fisch auf dem Trockenen fing er an, nach Luft zu schnappen.
    »Raphael!«, rief sie in Panik. Sie wollte ihn festhalten, aber wagte

Weitere Kostenlose Bücher