Der Engelmacher
es nicht. »Raphael! Raphael!«
Sie stürzte aus dem Raum.
»Herr Doktor! Herr Doktor!« Sie rannte die Treppe hinunter. »Herr Doktor!«
Gerade als sie unten ankam, ging die Tür des Sprechzimmers auf.
»Raphael«, rief sie, »er kriegt keine Luft mehr! Er wird sterben!«
Der Doktor nickte.
»Sie müssen etwas tun!«, schrie sie. »Helfen Sie ihm! So helfen Sie ihm doch!«
Wieder nickte er und setzte sich dann in Bewegung. Aber schleppend. Sehr schleppend. Sie stürmte ihm voraus nach oben, in der Hoffnung, ihn damit anzuspornen. Bei der Zimmertür blieb sie stehen. Stufe für Stufe kam der Doktor die Treppe hinauf. Sie sah Raphael flach auf dem Rücken im Bett liegen. Als der Doktor endlich oben angekommen war, trat sie sofort zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Sie hörte ihren eigenen Atem. Ihr eigenes Herz.
Er beugte sich über Raphael und fühlte dessen Puls. Ängstlich schlug sie die Hände vor den Mund. Minuten schienen zu verstreichen, bis er den Arm des Kindes wieder aufs Bett legte. Dann wandte er sich ihr zu: »Es ist noch nicht so weit. Gott drangsaliert ihn noch ein wenig.«
In der nächsten Nacht und am kommenden Tag wich sie Raphael und Gabriel kaum von der Seite. Sie stellte einen Stuhl neben das Bett und wachte über die Kinder. Die Jungen schliefen fast ununterbrochen und waren sehr unruhig im Schlaf. Ständig machten sie Bewegungen mit den Händen, als probierten sie, irgendwo hinaufzuklettern. Auch atmeten sie schwer. So schwer, dass sie, wenn einer von ihnen kurz kein Geräusch mehr von sich gab, jedes Mal Angst bekam, er hätte möglicherweise seinen letzten Atemzug getan. Ab und zu tupfte sie ihnen den Schweiß von der Stirn. Ab und zu berührte sie sie auch nur um dieser Berührung selbst willen.
In diesen Stunden des Wartens versuchte sie, die Bibel zu lesen, aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Immer wieder wanderte ihr Blick zu Raphael und Gabriel, auch wenn sie sich dann nur noch mehr verzehrte vor Kummer und Reue.
Ein paar Mal wachten die Kleinen auf. Dann machte sie sie sauber und gab ihnen etwas zu trinken. Ein bisschen Milch, ein bisschen Suppe und etwas Brot, das sie in der Suppe eingeweicht hatte. Aber sie aßen und tranken kaum noch etwas. Ein paar Krümel Brot, einen Teelöffel Milch oder Suppe, sonst nichts.
»Nur zu, esst etwas, esst ein bisschen«, sagte sie, aber Drängen half nicht.
Das Schlucken schien ihnen weh zu tun, und sich im Bett aufzurichten, bereitete ihnen offenbar ebenfalls Schmerzen. Sie hatte den Eindruck, dass es sie sogar Mühe kostete, nur die Augen aufzuschlagen.
Innerhalb kürzester Zeit ging es rascher mit ihnen bergab, als sie erwartet hätte.
Ein paar Tage. Vielleicht eine Woche.
Je länger dieser Zustand anhielt, desto ratloser wurde sie. Das merkte sie auch an den Schmerzen in ihrem Bauch. Genau wie früher verspürte sie den Drang, ihren eigenen Bauch mit den Fäusten zu bearbeiten, als könnte sie damit alles ungeschehen machen und zur Ruhe kommen. Einen Moment lang wünschte sie sich sogar, sie könnte die Kinder, so wie sie da lagen, aus dem Bett holen und sich in den Bauch zurückstopfen, um sie neu zu gebären und so wieder zum Leben zu erwecken.
Auch wartete sie auf den Moment, wo sie ihnen erzählen konnte, dass sie ihre Mutter war. Sie hatte das Gefühl, es unbedingt erzählen zu müssen. Aber immer wenn der Augenblick günstig erschien, zögerte sie wieder. Vielleicht hatten sie sich bereits ein Bild davon gemacht, wie ihre Mutter wohl gewesen war, und wären nun enttäuscht. So wie auch sie selbst sich jahrelang ein Bild von den Kindern gemacht hatte, um schließlich dahinterzukommen, dass sie anders waren. Ganz anders. Dennoch war sie nicht enttäuscht. Und vielleicht wären sie es auch nicht.
Am Ende des Tages, es war Montag, wollte sie es ihnen sagen. Sie hatte den Doktor nicht ein einziges Mal gesehen. Er hatte sich nicht blicken lassen. Den ganzen Tag war er unten geblieben, meistens im Sprechzimmer oder in einem Zimmer daneben. Um fünf Uhr nachmittags war Besuch da gewesen. Ein Mann und eine Frau. Sie hatte ihre Stimmen gehört, aber nicht, was sie gesagt hatten.
Als der Mann und die Frau das Haus verließen, wurden die Kinder wach. Sie gab ihnen ein wenig Wasser zu trinken und wischte ihre Gesichter mit einem Waschlappen ab. Die Köpfe der beiden glühten.
»Ich muss euch etwas sagen.«
Sie wusste nicht, ob sie ihr zuhörten. Sie schienen mit offenen Augen ins Nichts zu starren.
»Ich bin eure
Weitere Kostenlose Bücher