Der Engelmacher
gewagt, dass sie ein Jahr später ein Kind haben würden, das in allem genauso wäre wie Gunther, aber ohne dessen Taubheit.
Er war übermütig gewesen, auch wenn er das nicht so sah. Oder nicht so sehen wollte. Oder nicht so sehen konnte. Vor allem Letzteres. Jedenfalls hatte er am 15. Mai 1989, eine Woche vor Ablauf der vier Monate, den DNA-Code noch immer nicht entschlüsselt gehabt und erst recht das Gen nicht gefunden, das die Taubheit verursachte.
Er hätte diesen Teil des Prozesses aus der Hand geben und ihn beispielsweise Rex Cremer überlassen können, der in Köln bessere Geräte und mehr Erfahrung mit der Anwendung dieser neuen Technik hatte. Aber Victor wollte alles selber machen. Und wahrscheinlich wäre es ihm auch gelungen, aber er hatte sich selbst nicht genug Zeit gelassen. Dieses eine Mal hatte er die Latte zu hoch angelegt. Dieses eine Mal hatte er sich selbst überschätzt.
Nicht eingesehen, dass auch seine Möglichkeiten vielleicht begrenzt waren. Dass auch er vielleicht einmal versagen konnte. Dass auch er vielleicht einmal kein Glück hatte. Das alles kam ihm nicht in den Sinn. Nein, in seinen Augen war alles nur Widerstand. Gott wollte den Code des Lebens nicht einfach so preisgeben. Das verstand er nur allzu gut. Er selbst hätte sein Wissen auch nicht einfach so zum Fenster hinausgeworfen.
Aber weil Gott ihm so viel Widerstand entgegensetzte, musste er schließlich eine Entscheidung treffen. Es blieb ihm nur noch eine Woche, bis er einen Embryo im Alter von mindestens fünf Tagen einpflanzen musste. Das hieß, dass er noch zwei Tage hatte, um den Code zu entschlüsseln und den Fehler zu finden. Das war zu wenig.
Also beschloss er, nicht weiterzusuchen. Er gab sich nicht geschlagen, das gewiss nicht, er zeigte nur, dass er auch etwas einstecken konnte. Gott hatte mit einem Degen ausgeholt und ihn getroffen. Nicht tödlich. Nicht lebensgefährlich. Ein Hieb in den Arm. Oder in die Seite. Mehr nicht. Keine Niederlage, sondern eine Verwundung. So betrachtete er das. Und weil es nur eine Verwundung war, konnte er einen Gegenschlag führen. Sich zur Wehr setzen. Ein Sieg wäre dieses Mal nicht drin, aber er konnte durchaus versuchen, Gott ebenfalls zu treffen. Wenn er Gunther Weber das Leben zurückgab, das Gott dem Jungen genommen hatte, dann waren sie zumindest quitt. Und der Junge müsste natürlich am Leben bleiben. Er wäre taub, aber er dürfte nicht vorschnell altern. Diesmal nicht. Die eine Mutation war in Kauf zu nehmen, die andere nicht. Darauf lief es hinaus. Taubheit schon, aber keine zu kurzen Telomere. Das eine würde sich von selbst ergeben, das andere musste vermieden werden. Darin bestand die Herausforderung. Groß war sie nicht. Nicht mehr. Diesen Punkt hatte er schließlich schon so gut wie erreicht.
Lothar begleitete seine Frau an jenem 15. Mai zu ihrem Termin bei Doktor Hoppe. Es war Pfingstmontag, aber inzwischen hatte er gelernt, dass der Zyklus einer Frau sich nicht an Sonn- und Feiertage hielt. Eigentlich wäre er lieber zu Hause geblieben – er hatte sowieso keinen Anteil am Geschehen –, aber seine Frau hatte ihn dazu gedrängt, denn sie hatte ein bisschen Angst, gab sie zu. Der Doktor würde schließlich mit allerlei Apparaten in sie eindringen, und sie wollte, dass ihr Mann in der Nähe blieb, für den Fall, dass dabei etwas schiefging.
»Hauptsache, ich brauche nicht zu gucken«, hatte er in sich hineingebrummt.
Sie hatten um fünf Uhr einen Termin beim Doktor. Der Tag und die Uhrzeit standen schon länger fest. Nachdem Vera einen Monat lang in einem Kalender Aufzeichnungen über ihren Zyklus gemacht hatte, hatte der Doktor ein straffes Schema ausgearbeitet. Wenn alles gutging, würde der nächste Termin fünf oder sechs Tage später stattfinden. Dann würde der Doktor ein, vielleicht zwei Embryos in die Gebärmutter einbringen. Es wären Jungen, und sie wären genauso wie Gunther. Anfangs hatten sie darauf noch besonders gehofft, aber je näher der entscheidende Tag gekommen war, desto weniger hatte es ausgemacht. Hauptsache, das Kind war gesund. Das war doch das Wichtigste.
Ein einziges Mal hatte Vera den Doktor darauf angesprochen. Sie hatte es ihm eigentlich nur leichter machen wollen.
»Es braucht nicht unbedingt ein Junge zu werden. Und er braucht auch nicht so auszusehen wie Gunther.«
»Das wird er aber. Es geht nicht anders«, hatte der Doktor knapp geantwortet.
Daraufhin hatte sie den Mund gehalten. Nicht nur aus Angst, undankbar oder
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