Der Engelmacher
misstrauisch zu erscheinen, sondern auch, weil sie beim Aussprechen seines Namens ihren toten Sohn in einer flüchtigen Sekunde wieder vor sich gesehen hatte. Da hatte sie ihn so sehr vermisst und sich so danach gesehnt, ihn wieder an sich zu drücken, dass ihr die eigenen Worte augenblicklich Leid getan hatten.
Inzwischen wollte sie aber doch vor allem, dass das Kind gesund zur Welt kam. Ohne Behinderungen. Ohne Missbildungen. Also auch nicht taub. Wenn das doch nur wahr würde.
Um Punkt fünf Uhr betraten Lothar und Vera das Haus des Doktors. Lothar war mulmig zumute, als müsste nicht seine Frau, sondern er selbst den Eingriff über sich ergehen lassen. Jetzt, da der Moment gekommen war, fragte er sich, ob sie es nicht doch erst auf natürliche Weise hätten probieren sollen. Darüber hatten sie in den letzten vier Monaten eigentlich überhaupt nicht mehr gesprochen. Genauso wenig hatte er im Bett noch versucht, sich ihr zu nähern. Vielleicht fühlte er sich auch deshalb ein bisschen unwohl. Weil der Doktor nun in seiner Gegenwart an seiner Frau herummachen würde, während er selbst sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr angerührt hatte.
Im Sprechzimmer hatte Doktor Hoppe alles schon bereitgestellt. Lothar setzte sich vor den Schreibtisch, halb mit dem Rücken zu dem Tisch, auf den seine Frau sich nun legen musste. Sein Blick war kurz auf die Beinstützen gefallen, das hatte ihm schon gereicht.
»Entspannen Sie sich ruhig, Frau Weber«, hörte er Doktor Hoppe sagen.
Der Doktor erklärte noch einmal, was er gleich tun würde, aber Lothar hörte kaum zu. Wenn wir es nur schnell hinter uns haben, dachte er.
Im Dorf glaubten alle, seine Frau wäre in Therapie und würde wegen einer Depression behandelt. Er hatte dem auch nie widersprochen, denn Vera hätte das nicht gewollt. Lieber sie dachten so etwas, als dass sie die Wahrheit erfuhren. Und in gewisser Weise war es ja auch eine Therapie. Auch für sie beide. Sie waren zwar beide noch von Kummer erfüllt, aber da sie nun einen Halt hatten, etwas, worauf sie sich freuen konnten, war dieser Kummer erträglicher geworden. Die Leere war weniger leer. So ungefähr.
Hinter sich hörte er das metallische Klirren von Instrumenten, die in einen kleinen Kasten zurückgelegt wurden, aber auch von woanders kamen Geräusche. Es lief jemand im Haus herum. Die Kinder des Doktors? Oder war es diese Frau? Bisher hatte man sie jedenfalls nicht wieder fortgehen sehen. Vielleicht war sie also noch da.
»Frag doch den Doktor selbst«, hatte Vera auf dem Hinweg gesagt.
Sollte er das jetzt tun? Er sah seine Frau an. Ihr Unterkörper war durch einen dunkelgrünen Schirm seinen Blicken entzogen. Sie atmete regelmäßig mit geschlossenen Augen. Der Doktor hatte sie leicht betäubt. Sie würde kaum etwas von dem Eingriff spüren, hatte er gesagt. In ihrem Profil erkannte Lothar das seines Sohnes. Sie hatten dieselbe kleine Nase und dieselbe hohe Stirn. Er war immer froh gewesen, dass Gunther nicht seine eigene dicke Nase geerbt hatte. Der Gedanke an seinen Sohn ließ ihn erschaudern. Er holte tief Luft. Irgendwo im Haus war erneut Gepolter zu hören. Die Söhne des Doktors? Wie es ihnen wohl ging? Sie hatten Krebs, hieß es. Aber der Doktor hatte das nie bestätigt. Was war schlimmer, ein Kind nach einer langen, schleppenden Krankheit zu verlieren oder bei einem Unfall? Bei einem Unfall. Das wusste er genau. Er hätte so gern noch ein paar Dinge zu Gunther gesagt. Wenn das doch noch möglich gewesen wäre. Aber für den Doktor war es sicher genauso schrecklich. Kinder verdienten es nicht zu sterben, weder durch Unfälle noch durch Krankheiten.
»Warum hat Gott nicht mich zu sich gerufen? Ich habe meine besten Jahre hinter mir. Er hatte noch ein ganzes Leben vor sich«, hatte seine Frau in den ersten Tagen nach Gunthers Tod mehr als einmal geseufzt. Bei dem Doktor war es anders, da hatte Gott tatsächlich erst das Leben der Mutter genommen. Aber das Opfer hatte wohl nicht ausgereicht. Gott forderte nun auch noch die Kinder. Manchmal konnte Er wirklich grausam sein.
Sie brauchen sich nicht in den Willen Gottes zu ergeben.
Lothar hatte Doktor Hoppes Stimme noch im Ohr. Aber diesmal würde selbst der Doktor sich fügen müssen. Oder ging es den Kindern gar nicht so schlecht, wie immer vermutet wurde? Tatsache war, dass sie seit dem Unfall von Charlotte Maenhout niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte, aber bedeutete das automatisch, dass sie dem Tode geweiht waren? Vielleicht hatte
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