Der Engelmacher
funktioniert. Dennoch hatte Frau Maenhout das Gefühl gehabt, dass sie heimlich hofften, sie würde sich noch öfter in den Namen irren, was sie im Laufe des Vormittags dann auch gleich ein paar Mal absichtlich getan hatte. Als sie um halb zwölf schließlich nach Hause gegangen war, hatten die Kleinen einen Zeigefinger vor die Lippe gelegt und ihr zugeflüstert, sie dürfe dem Vater nichts davon sagen.
»Isch esch scho gut?«, fragte nun Michael, ohne die Zähne auseinanderzubewegen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf sein Gebiss.
»Sehr gut, Michael. Aber du hast da noch ein bisschen Zahnpasta im Mundwinkel.«
»Sehen Sie, wir können es selbst«, sagte Gabriel.
»Ja, bald kann ich nach Hause gehen, wenn ihr so weiter macht«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Und jetzt ausziehen. Ich lasse schon mal die Wanne volllaufen.«
Sie drehte den Badewannenhahn auf. Es dauerte einen Moment, bis das Wasser die richtige Temperatur hatte, und als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass lediglich Gabriel es geschafft hatte, sich den Pullover vollständig auszuziehen. Michael hatte gerade einen Arm aus dem Ärmel befreit, und Raphael hatte das Ding nicht über den Kopf bekommen und zerrte noch hinter seinem Rücken am Stoff herum, wodurch seine Ellbogen vorstanden. Da sah Frau Maenhout plötzlich etwas im Spiegel, was sie vorher noch nicht gesehen hatte.
»Was hast du denn da?«, fragte sie und deutete im Spiegel auf Raphaels nackten Rücken.
»Das hat Vater gemacht«, sagte er ohne Zögern.
Sie lief auf ihn zu und zog ihm den Pullover aus. Zwischen den Schulterblättern war mit Klebeband ein weißer Druckverband von der Größe einer Briefmarke auf der Haut befestigt.
»Wir durften das nicht«, fügte Raphael hinzu.
»Was?«, fragte sie. Angst schnürte ihr das Herz zusammen.
»Unsere Armbänder …«
Sie fing an, das Klebeband abzufriemeln. Ihre Hände zitterten. Sie spürte, wie sie innerlich kochte vor Wut, obwohl sie noch nicht genau wusste, um was es hier eigentlich ging. Vorsichtig entfernte sie den Druckverband. Darunter war die Haut rot und geschwollen, aber sehr deutlich zeichneten sich auch drei schwarze Flecken ab, jeder so groß wie ein Geldstück.
»Was in Gottes Namen …«, sagte sie. Ein schrecklicher Gedanke überfiel sie. Sie wischte über die Flecken, aber sie verschwanden nicht. Auch nicht, nachdem sie ihren Finger mit Speichel befeuchtet hatte. Sie sah zu Gabriel und Michael, die vor sich hin starrten. In der Hoffnung, dass sie sich täuschte, lief sie zu Gabriel hinüber, der mit dem bloßen Rücken zur Wand stand, fasste ihn bei den Schultern und drehte ihn um. Auf seinem Rücken fand sie denselben Druckverband. Auch hier pulte sie vorsichtig den Klebestreifen los und fand ihre Vermutung bestätigt: Auch auf seinem Rücken befanden sich schwarze Flecken, diesmal nur zwei. Einen Augenblick lang war sie perplex. Unmöglich, dachte sie, aber gleichzeitig wusste sie bereits, dass es doch so war. Sie wusste, dass er, Doktor Hoppe, zu so etwas in der Lage war. Sie wandte sich Michael zu, und obwohl sie es sich eigentlich hätte sparen können, nahm sie auch seinen Rücken in Augenschein. Unter dem Druckverband fand sie nun einen einzelnen Fleck: schwarze Tinte, die für immer die Haut des Jungen zieren würde.
»Ihr bleibt hier«, sagte sie zu den Kindern und rauschte aus dem Badezimmer.
Nach dem Wutausbruch von Frau Maenhout grassierte in Wolfheim eine Zeit lang geradezu eine Klatsch-Epidemie. Irma Nussbaum hatte sich als Erste angesteckt, und von ihr aus verbreitete sich das Virus, dem vor allem Frauen zum Opfer fielen, rasend schnell weiter. Im Wartezimmer von Doktor Hoppe war es einige Wochen lang noch voller als sonst, und obwohl die Patienten unter allen möglichen Beschwerden litten, von Ohrensausen über Kopfweh und Seitenstichen bis hin zu Schwindelgefühlen, war ersichtlich, dass in Wirklichkeit alle dasselbe, schwer zu kurierende Leiden quälte. Alle hatten eine eigene Meinung über die plötzliche Ausfälligkeit Charlotte Maenhouts und taten diese bevorzugt im ärztlichen Wartezimmer kund, lautstark und in der Hoffnung, sowohl im Sprechzimmer als auch in der Küche gehört zu werden. Auffallend war, dass niemand etwas Böses über den Doktor sagte. Odette Surmont vermutete, dass die ehemalige Lehrerin nach ihrer Pensionierung schwere Depressionen bekommen hatte. Kaat Blum aus der Kirchstraße behauptete, Charlotte Maenhout selbst misshandele die Kinder. Rosette Bayer sagte, es
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