Der Engelmacher
sei wahrscheinlich ein Fall von Eifersucht, und fügte hinzu, der Herr Doktor müsse gut aufpassen, dass die Betreuerin sich nicht mit den drei Kindern aus dem Staube mache. In einer Hinsicht waren sich die Frauen allerdings alle einig: Doktor Hoppe musste Charlotte Maenhout entlassen, besser heute als morgen.
Im »Terminus«, wo am Abend reichlich Getränke flossen, die die Zungen lösten, spornte René Moresnet seine Kunden dazu an, Wetten darüber abzuschließen, wie lange sie noch im Dienst des Doktors stehen würde. Jedes Mal, wenn am Ende eines bestimmten Tages, auf den einer der Stammgäste seine Groschen gesetzt hatte, Frau Maenhout doch wieder das Doktorhaus verließ und über den Dorfplatz nach Hause ging, klopfte der Verlierer zur Erheiterung der übrigen Gäste gegen die Fensterscheibe des Wirtshauses und schwenkte eine Faust in der Luft. Pastor Kaisergruber hielt sich aus der ganzen Sache heraus, doch allein die Tatsache, dass er schwieg, deutete Jacob Weinstein zufolge darauf hin, dass sein Vorgesetzter das Verhalten der Gemeinde billigte. Gewiss hatte er noch nicht vergessen, wie das Wundermittel Doktor Hoppes ihn von seinen Magenschmerzen erlöste.
Zur Entlassung von Frau Maenhout kam es dann aber doch nicht, und mit zunehmender Enttäuschung mussten einige Frauen feststellen, dass ihre Stimme im Hause des Doktors nach einiger Zeit sogar nachdrücklicher erklang als je zuvor, fast wie zum Trotz.
Doch nicht nur über Charlotte Maenhout, auch über die Kinder wurde gesprochen. Alle fragten sich, was mit ihnen los war, um dann wild drauflos zu raten. Léon Huysmans blieb dabei, es müsse sich um Elefantiasis handeln, und er stützte seine These mit Fotos aus medizinischen Büchern, auf denen Menschen mit missgebildeten Gesichtern und auffällig großen und kahlen Schädeln abgebildet waren. Hier und dort sprach man erstmals auch von jener unheimlichen Krankheit, auf die man nur durch Nennung ihres ersten Buchstabens Bezug zu nehmen wagte: K.
Doktor Hoppe behauptete allerdings weiterhin, es sei alles halb so schlimm, und ließ im Übrigen durchschimmern, dass das Grippevirus, das beinahe jeden Winter in der ganzen Region zuschlug, viel gefährlicher sei als das, worunter seine Kinder litten.
7
Vier Monate lang hatte Frau Maenhout kaum ein Wort mit Doktor Hoppe gewechselt. Ein paar Mal hatte sie ihn auf die Tätowierungen der Kinder ansprechen wollen, aber da er sie, von einigen medizinischen Routine-Untersuchungen abgesehen, seither in Ruhe gelassen hatte, hatte sie es sein lassen. Vielmehr schien es mit der Gesundheit der Kleinen insgesamt bergauf zu gehen, sodass sie sich allmählich fragte, ob der Doktor vielleicht die ganze Zeit neue Behandlungstechniken und Medikamente an ihnen getestet hatte. Sie waren zwar noch immer ständig müde und schliefen mehr und länger als andere Kinder in ihrem Alter, aber wenn sie einmal wach waren, lebten sie sich nun viel mehr aus als vorher, so als hätten sie sich bisher fortwährend in einer Art Betäubungszustand befunden. Inzwischen waren sie auch neugieriger auf ihre Umwelt geworden, vor allem darauf, was sich draußen abspielte, vor den Mauern, in denen sie gefangen waren. Aber Frau Maenhout hatte bewusst oberflächlich auf entsprechende Fragen geantwortet, um die Sehnsucht der Kleinen nicht zu sehr zu wecken.
»Was ist dahinter?«, hatten sie schon ein paar Mal gefragt und dabei auf die Häuser der gegenüberliegenden Straßenseite gezeigt.
»Noch mehr Häuser«, hatte sie geantwortet.
»Wo fahren die ganzen Autos hin?«, fragten sie, wenn wieder einmal eine endlose Schlange von Wagen, die zum Dreiländereck unterwegs waren, vor dem Doktorhaus im Stau stand.
»Den Berg hinauf.«
»Wo liegt Holland?«
»Hinter dem Berg.«
»Wann fahren wir da mal hin?«
»Eines Tages machen wir das.«
Ihr Horizont blieb also begrenzt, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Sie kannten nicht mehr von der Welt als das, was sie durch die Fenster sehen konnten: die Kirche, die Straße, ein paar Häuser, Bäume, Autos und Menschen. Deshalb wollte Frau Maenhout sie auch gerne mit nach draußen nehmen, und sei es nur bis zur gegenüber liegenden Straßenseite oder auf den Dorfplatz. Das wäre doch schon mal ein Anfang. Als der Frühling bereits in der Luft lag, sprach sie also den Doktor darauf an, denn den Kindern ging es offensichtlich besser, was konnte er also dagegen haben? Es war das erste Mal, dass sie nach ihrem Wutanfall wieder ein Wort mit ihm
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