Der Engelmacher
sprach.
»Ich würde mit Michael, Gabriel und Raphael gern mal ein bisschen rausgehen«, erklärte sie.
»Warum?«
»Sie sind noch nie draußen gewesen. In einem halben Jahr werden sie schon drei, und sie haben noch nichts von der Welt gesehen.«
»Das hatte ich auch nicht in ihrem Alter.«
Seine Antwort überraschte sie. Als wollte er, dass seine Söhne eine ebensolche Kindheit durchlebten wie er. Als sollten sie nicht dürfen, was auch er nicht gedurft hatte. Wenn das der einzige Grund war, warum die Kinder im Haus bleiben sollten, dann musste sie ihn von dieser Wahnidee abbringen. Gleichzeitig fragte sie sich, warum der Doktor wohl als Kind nicht nach draußen gedurft hatte. Aber nur einen kleinen Moment später fiel ihr Blick auf sein Gesicht und auf die Narbe, und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Haben Sie vielleicht Angst, dass sie jemand sieht?«, fragte sie. »Schämen Sie sich für Ihre Kinder? Ist es das? Dürfen sie deshalb nicht nach draußen?«
Seine Reaktion war kaum auszumachen. Ganz kurz verzog er nur das Gesicht, als hätte er auf irgendetwas Hartes gebissen. Aber es genügte ihr, um sicher zu sein, dass sie offenbar einen wunden Punkt erwischt hatte.
»Glauben Sie das? Das glauben Sie?«, fragte er.
»Nicht nur ich«, bluffte sie, »das glauben alle.«
Er schwieg, als müsse er ihre Worte erst auf sich wirken lassen. »Ich schäme mich keineswegs«, sagte er dann, »wie kommen Sie darauf? Warum sollte ich mich schämen?«
Wegen des Äußeren der Kinder. Wegen Ihres eigenen Äußeren. Es lag ihr auf den Lippen.
Aber sie sagte: »Dann brauchen Sie sie doch auch nicht drinnen einzusperren.«
»Ich will nicht, dass ihnen etwas zustößt. Es darf ihnen nichts zustoßen.«
Überbehütung. War das der Grund? War er darum so streng? Sie hatte schon öfter mit Eltern zu tun gehabt, die bei der Schule um die Ecke wohnten und ihr Kind trotzdem mit dem Auto bis zur Schulpforte brachten oder es nicht auf Klassenfahrt mitlassen wollten oder ihm Zettel mitgaben, auf denen genau stand, was das Kind in der Pause alles durfte und was nicht. Aber Eltern, die ihr Kind buchstäblich im Haus einsperrten, waren ihr noch nicht begegnet. Vielleicht war der Doktor so ängstlich, weil er seine Frau verloren hatte.
Sie hakte nicht nach. Sie sagte nur: »Aber wenn Sie sie zumindest in den Garten lassen? Da kann ihnen doch wenig passieren. Und ich passe gut auf sie auf. Ich werde sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«
Ein Schritt nach dem anderen, dachte sie.
»Aber nur, wenn das Wetter gut ist«, sagte er schließlich in einem letzten Versuch, die Oberhand zu behalten. Aber für sie war es ein kleiner Sieg.
Wie Feuer bei Sauerstoffmangel langsam erstirbt, so legte sich allmählich auch die Klatsch-Epidemie, die einige Wochen lang im Dorf grassiert hatte. Zwar gab es noch ein paar Mütter, die zu verhindern suchten, dass die Zündflamme in der Gerüchteküche ausging, aber auch ihnen blieb die Sprache weg, als die Drillinge gleich am ersten schönen Frühlingstag des Jahres 1987 im Garten gesichtet wurden. Freddy Machon hatte sie bemerkt, als er mit seinem Hund spazieren gegangen war. Hinter der hohen Weißdornhecke, die den Garten des Doktorhauses den Blicken entzog, hatte er plötzlich Kinderstimmen gehört. Er war unauffällig hinübergeschlendert und hatte die Hecke nach einer Stelle abgesucht, wo er die Zweige auseinanderdrücken und hineinsehen konnte. Zum Beweis zeigte er später im »Terminus« seine von den Stacheln verschrammten Hände vor. Er erzählte, dass die drei Jungs an einem Tisch im Schatten des alten Walnussbaums gesessen hatten. Charlotte Maenhout war bei ihnen gewesen und hatte Kartoffeln geschält. Die drei Brüder hatten mit Karten gespielt, die sie umgekehrt nebeneinander auf den Tisch gelegt hatten, wobei sie nacheinander jeweils zwei umgedreht hatten, mit dem Ziel, identische Abbildungen zu finden.
»Memory«, rief René Moresnet, als ginge es um eine Quizfrage, »das trainiert das Gedächtnis.«
»Hast du ihre kahlen Köpfe gesehen?«, wollte Jacques Meekers wissen. Freddy schüttelte den Kopf und sagte, sie hätten alle drei Hüte aufgehabt, die ihnen bis über die Ohren gereicht und deren Ränder die Gesichter überschattet hätten.
»Sonst verbrennen sie sich natürlich gleich den Schädel«, bemerkte Meekers und strich sich über den eigenen Kopf, der auch langsam kahl wurde. »Die Sonne ist zu dieser Jahreszeit trügerisch. Und ansonsten? Hast du sonst noch was
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