Der Engelmacher
herankamen.
Raphael teilte die Zahnbürsten aus, die dieselben Farben hatten wie ihre Armbänder.
Im Spiegel sah Frau Maenhout die drei kahlen Schädel der Kinder. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie dem Vater zu Unrecht Vorwürfe gemacht hatte, am Tag nach ihrem ersten Geburtstag. Sie hatte geglaubt, Doktor Hoppe habe sie kahl geschoren, entweder für die eine oder andere Untersuchung oder einem launischen Einfall folgend. Dabei waren ihnen tatsächlich in einer einzigen Nacht alle Haare ausgefallen. Zum Beweis hatte Doktor Hoppe sie von jedem Kissen geklaubt und in drei Plastiktüten aufgehoben, die er ihr gezeigt hatte. Die Kinder hatten seine Version der Geschichte bestätigt.
»Es wird schon alles wieder gut«, hatte der Doktor gesagt und hinzugefügt, das sei eine vorübergehende Angelegenheit. Aber inzwischen, fast ein Jahr später, waren die Haare noch immer nicht nachgewachsen, und er quälte seine Söhne mit allen möglichen Untersuchungen, bei denen hoffentlich auch mal was herauskam. Teils waren es Routinemaßnahmen wie Abhören mit dem Stethoskop, Blutdruck messen oder mit einem Hämmerchen die Reflexe testen. Teils erzählten die Kinder Frau Maenhout aber auch von unangenehmen Dingen, etwa dass er mit einer Art Raspel Proben von ihrer Haut abschabte oder dicke, hohle Nadeln in ihre dünnen Arme steckte, um Blut abzunehmen. Ganz sachlich erzählten die Kinder, was jeweils passiert war, als wären sie dabei nur Zuschauer gewesen und hätten es nicht am eigenen Leib erfahren. Auch in dieser Hinsicht hatte sich in den vergangenen Monaten wenig verändert. Die Kinder wussten noch immer nicht, wie sie emotional auf bestimmte Dinge reagieren sollten, oder – darüber war Frau Maenhout sich noch nicht ganz im Klaren – sie wussten es zwar, konnten aber ihre Gefühle nicht in Worte fassen. Jedenfalls blieben sie sehr in sich gekehrt, außer wenn sie zu irgendetwas keine Lust hatten, was immer öfter vorkam. Dann benahmen sie sich alle drei ausgesprochen dickköpfig, und Frau Maenhout vermutete, dass Angst dahintersteckte.
Obwohl sie sich innerhalb eines Jahres sehr verändert hatten, sahen die drei Brüder einander immer noch zum Verwechseln ähnlich. Alle drei waren sie gleich klein und mager, während ihre Köpfe abnorm groß waren. Sie hatten genau gleich viele schief gewachsene Zähne an denselben Stellen im Mund, und auch die Narbe war auf dieselbe Art und Weise mitgewachsen bzw. verwachsen. Die Adern, die durch die Kopfhaut schimmerten, wiesen ebenfalls keine individuellen Krümmungen oder Biegungen auf. Sowohl aus der Nähe als auch aus einigem Abstand heraus erkannte man bei allen dreien ein und dieselbe große Ader, die vom rechten Ohr aus sichelförmig über die Rückseite des Schädels lief.
Als Frau Maenhout im Haushalt des Doktors angefangen hatte, war sie noch überzeugt davon gewesen, die Kinder schon bald mit bloßem Auge auseinanderhalten zu können. Bei den Zwillingen, die sie gelegentlich in ihrer Schulklasse gehabt hatte, war das auch nie ein Problem gewesen. Aber schließlich hatte sie dem Doktor Recht geben müssen, der ihr schon am ersten Tag gesagt hatte, es werde ihr nicht gelingen. Und so war es noch immer.
»Fertig!«
Der erste der drei Jungen legte seine Zahnbürste hin und stieg von der kleinen Bank herunter. Er drehte sich zu ihr um und zeigte seine Zähne, indem er die Oberlippe hochzog und den Unterkiefer nach vorne schob. Unwillkürlich wanderte Frau Maenhouts Blick zu dem Armband des Kindes. Seit kurzem musste sie allerdings auf der Hut sein, denn unlängst hatten die drei ihre Identitäten vertauscht, woraus Mehrlinge sich gerne einen Spaß machen. Sie hatten es auch schon vorher probiert, aber an den verschiedenfarbigen Armbändern hatte sie immer ablesen können, wen sie vor sich hatte. Gestern Morgen war es ihnen aber endlich gelungen, die Verschlüsse aufzubekommen. Raphael hatte sein Band Gabriel gegeben, der hatte seines um Michaels Handgelenk befestigt, und Raphael hatte schließlich das von Michael bekommen. Lang hatte das Verwechslungsspiel allerdings nicht gedauert, denn als Frau Maenhout mit einem Blick auf das Armband den vermeintlichen Michael etwas gefragt hatte, hatte sich sogleich der echte zu Wort gemeldet: »Er ist Raphael«, hatte er gesagt, »Michael bin ich.«
Andere Kinder hätten »Reingefallen!« gerufen und wären in Gejohle ausgebrochen, aber die drei Doktorkinder hatten einander lediglich kurz zugenickt, als wollten sie sagen: Na also, es
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