Der Engelmacher
bereits im Wartezimmer, als Irma Nussbaum hereinkam. Sie setzte sich ihm gegenüber, sodass sie die Tür zum Sprechzimmer im Auge behalten konnte, und nahm eine Frauenzeitschrift von dem Stapel mit Illustrierten auf dem kleinen Tisch.
»Hat der Doktor noch nicht angefangen?«, fragte sie.
Julius zuckte mit den Achseln, ohne von seinem Comic-Heft aufzusehen.
»Hast du sie schon gehört?«, fragte sie.
»Wen?«, fragte Julius.
»Die Kinder vom Herrn Doktor.«
Wieder zuckte Julius mit den Achseln. Im selben Moment schlug irgendwo im Haus eine Tür zu, und gleich darauf rief eine Kinderstimme: » Nein, ich will nicht! «
»Das werden sie sein«, reagierte Irma entzückt. Sie hielt den Kopf schief, um die Geräusche, die von oben zu kommen schienen, besser mitzubekommen.
» Michael, stell dich nicht so an und komm her! «
»Frau Maenhout wird ganz offensichtlich nicht mit ihnen fertig«, sagte sie nun. Sie sah Julius an, der gerade eine Seite umblätterte. »Kommt das öfter vor?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Julius und deutete mit dem Kopf in Richtung Sprechzimmertür. »Ich glaube, der Herr Doktor kommt. Gehen Sie ruhig vor, ich hab das hier noch nicht durch.«
Er hielt das Heft kurz hoch und sich dann wieder vors Gesicht.
Der Junge hat keine Lust auf seine Spritze, dachte Irma, die gern auf sein Angebot einging und auch gleich aufstand, sobald Doktor Hoppe die Tür öffnete.
Sie musste sich immer erst aufs Neue an ihn gewöhnen, wenn sie ihn sah. Sein rotes Haar erregte jedes Mal wieder ihre Aufmerksamkeit, und oft erwischte sie sich dabei, dass sie unwillkürlich auf die Narbe starrte, die er mit seinem Schnurrbart zu verbergen versuchte. Auch seine Stimme klang jedes Mal anders, als sie sie in Erinnerung hatte.
»Kommen Sie nur herein, Frau Nussbaum«, sagte der Doktor.
Im Sprechzimmer nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz und beugte sich vor, um in einer der Schubladen nach ihrer Patientenakte zu suchen. Sie nutzte die Gelegenheit, das eingerahmte Foto, das in einer Ecke des Schreibtischs stand, zu sich zu drehen.
»Ich bin jedes Mal wieder verblüfft, wie ähnlich sie sich sehen, Herr Doktor«, sagte sie.
Der Doktor sah kurz auf und nickte. Irma fuhr unbeirrt fort.
»Sie haben sich inzwischen bestimmt sehr verändert, oder?«
Er legte ihre Akte auf den Schreibtisch und nickte wieder.
»Sehen sie sich immer noch so ähnlich?«, drängte sie ihn.
»Ja, immer noch.«
»Und wie geht es ihnen, Herr Doktor? Mir war gerade, als hätte ich einen der drei schreien hören.«
»Frau Maenhout versucht, sie in die Badewanne zu stecken. Das mögen sie nicht besonders. Und dann wehren sie sich natürlich. Verständlich, nicht wahr?«
»Oh, mir brauchen Sie das nicht zu erzählen. Und warten Sie erst mal ab, bis sie größer sind. Ich bin heilfroh, dass meine beiden endlich aus dem Haus sind. Wie alt sind Ihre nun eigentlich genau?«
»Fast zwei Jahre. Aber sagen Sie …«
»In kaltem Wasser einweichen«, unterbrach Irma den Doktor.
»Wie bitte?«
»Den Fleck da«, sagte sie und deutete auf seinen Kittel, auf dessen linkem Ärmel sich ein dunkler Fleck von der Größe einer Münze befand. »Das ist doch Blut, oder? Das kriegen Sie weg, indem Sie den Kittel eine Stunde in kaltem Wasser einweichen und ihn danach bei sechzig Grad waschen. Weiß Frau Maenhout das etwa nicht?«
Kurz schien er durcheinander und strich mit den Fingern über den eingetrockneten Fleck.
»Oder ist das Tinte?« Sie zeigte auf den Füllfederhalter, der auf dem Schreibtisch lag. »Dann müssen Sie Essig oder Zitronensaft nehmen.«
»Ich werde Frau Maenhout Bescheid sagen«, entgegnete der Doktor und probierte, den Fleck mit dem Fingernagel abzukratzen.
»Nicht, dann wird es nur noch schlimmer!«, sagte Irma streng.
Reflexartig zog der Doktor seine Hand zurück. Er setzte sich aufrecht und fing mechanisch an, in ihrer Patientenakte zu blättern. »Was hatten Sie gleich wieder für Beschwerden?«
Noch bevor sie antworten konnte oder sich auch nur überlegen, weshalb sie gekommen war, war von oben wieder ein Geräusch zu hören, ein entsetzliches Gepolter diesmal. Jemand schien die Treppe herabzustürmen, und sowohl Irma als auch der Doktor blickten zur Tür, die auf den Gang hinausging und im nächsten Augenblick aufgerissen wurde. Im Türrahmen erschien Frau Maenhout. Sie war rot angelaufen und schnappte nach Luft. Mit der Hand klammerte sie sich an der Türklinke fest. Den Mund hatte sie zu einer Grimasse
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