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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Über die Fortschritte, die sie dabei machten, konnte sie nur staunen. Die Kleinen waren offenbar noch intelligenter, als sie gedacht hatte. Nach kaum vier Wochen, in denen sie sich lediglich zwei Stunden täglich konzentriert mit ihnen beschäftigt hatte – die restliche Zeit war für den Haushalt draufgegangen –, konnten Michael, Gabriel und Raphael schon einige Worte lesen. Ursprünglich hatte sie gar nicht vorgehabt, ihnen das Lesen beizubringen, aber nachdem sie ihnen einmal gezeigt hatte, wie einzelne Buchstaben zu Worten zusammengesetzt wurden, waren die Kinder selbst auf die Suche nach Worten gegangen, die sie zu entziffern versuchten: in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, auf Plakaten und Broschüren, auf Tüten von der Bäckerei, Konservendosen, Verpackungskartons, kurz überall, wo Buchstaben draufstanden. Das brachte sie auf die Idee, ein paar Lehrbücher aus ihrer alten Schule zu holen, die sie damals im Unterricht benutzt hatte. Die drei spielten sozusagen mit Buchstaben wie andere Kinder ihres Alters mit Bauklötzen oder Spielzeugautos.
    So war es auch mit dem Zählen. Nachdem sie die Zahlen von eins bis zehn gelernt hatten, fingen die Kleinen an, ständig zu zählen, mit demselben Eifer, mit dem sie nach neuen Worten suchten. Sie zählten die Äpfel in der Obstschale, die Eier im Kühlschrank, die Knöpfe ihrer Hemden, die Bücher im Regal, und schon bald wollten sie wissen, wie es nach der Zehn weiterging, und danach und danach, sodass sie innerhalb kürzester Zeit bis Hundert zählen konnten.
    Diese Fortschritte konnten auch Doktor Hoppe nicht verborgen bleiben, und trotzdem dauerte es gut zwei Monate, bis er etwas dazu sagte. Die ganze Zeit über dachte Frau Maenhout, er nehme es ihr übel. Er würde denken, dass sie den Kindern selbst nur etwas beibrachte, um darauf aufmerksam zu machen, dass Michael, Gabriel und Raphael dringend in den Kindergarten mussten. Sie war deshalb durchaus überrascht von seiner Bemerkung und glaubte zunächst, sie beziehe sich auf ihre Arbeit im Haushalt.
    »Sie leisten gute Arbeit, Frau Maenhout«, sagte er.
    Sie stand im Gang und war gerade dabei, sich für den Heimweg fertig zu machen.
    »Danke«, entgegnete sie nur.
    »Sie holen mehr aus den Kindern heraus, als ich je erwartet, ja zu hoffen gewagt hätte.«
    »Es ist ihr eigenes Verdienst. Sie stimulieren sich gegenseitig. Es ist ein Spiel für sie.« Fast hätte sie noch hinzugefügt, dass sie es taten, um ihr elendes Dasein zu vergessen.
    »Ihre Bescheidenheit ziert Sie«, sagte Doktor Hoppe.
    »Das alles hätten sie bei jemand anders auch gelernt, und zwar genauso schnell.«
    »Nicht im Kindergarten. Da würden sie nur ihre Zeit vertun.«
    Die Bemerkung missfiel ihr. Ihr wurde klar, dass sie dem Doktor einen neuen Vorwand dafür geliefert hatte, seine Kinder zu Hause zu behalten. Gleichzeitig kam ihr ein Gedanke.
    »Ich kann mich gelegentlich erkundigen, ob sie nicht gleich in der Grundschule anfangen können. Es gibt schließlich immer wieder mal Kinder, für die solche Ausnahmen gemacht werden.«
    Sie musste an Valerie Thévenet aus La Chapelle denken. Das Mädchen war ein Trimester lang bei ihr im ersten Schuljahr gewesen und hatte einen solchen Vorsprung gehabt, dass sie mit dem zweiten Trimester des zweiten Schuljahres anfangen konnte. Das dritte Schuljahr hatte sie dann ganz ausgelassen. Als sie zehn war, war sie auf ein Internat in Lüttich gekommen, wo sie am weiterführenden Unterricht teilgenommen hatte. Seitdem hatte Frau Maenhout nichts mehr von ihr gehört. Die Söhne des Doktors waren ihrem Alter aber noch mehr voraus. Die würden bestimmt schon mit drei Jahren unter lauter Sechsjährigen landen. Sie hatte keine Ahnung, ob so etwas erlaubt oder möglich war, ließ es sich aber nicht anmerken.
    Dennoch schüttelte er den Kopf. »Das geht später ja immer noch.« Und nach einer kurzen Pause, in der er einmal tief Atem geholt hatte: »Ich möchte gern, dass Sie ihnen Unterricht geben.«
    Von diesem Ansinnen überrascht, wusste sie zunächst nicht, wie sie reagieren sollte. Einerseits fühlte sie sich geschmeichelt, andererseits hatte sie das Gefühl, benutzt zu werden. Er versuchte, ihr seinen Willen aufzuzwingen.
    »Sie bekommen dann natürlich eine Gehaltserhöhung«, fügte er hinzu, so als müsse das, was ihm vorschwebte, auch auf jeden Fall in die Tat umgesetzt werden.
    »Und wenn ich es nicht tue?« Sie fragte sich, ob er sich dann jemand anders suchen würde.
    »Das wird man dann sehen.

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