Der Engelmacher
sie weitermachen.
»Wie lange wissen Sie es schon?«
»Seit kurz nach ihrer Geburt.«
»Warum haben Sie es mir nicht früher erzählt?«
»Weil es schon gut ausgehen wird. Die letzten Untersuchungen …«
»Diese Untersuchungen sind völlig wertlos! Das Einzige, was Sie damit erreicht haben, ist, dass Ihre eigenen Kinder Angst vor Ihnen haben!«
Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten, und warum hätte sie auch sollen? Ihre Wut war indes auch ein Ventil für den Kummer, den sie nicht zeigen wollte.
»Ich versuche, ihr Leben zu retten«, sagte der Doktor ruhig. »Das ist mein Ziel. Ich will sie heilen. Das ist doch moralisch und gut.«
»Sie müssen in ein Krankenhaus gebracht werden«, sagte sie, nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hatte.
»Ich weiß, was gut ist«, sagte er bestimmt, »sie kommen in kein Krankenhaus.«
»Sie könnten doch eine zweite Meinung einholen«, versuchte sie in flehendem Tonfall.
»Das sind doch alles nur Stümper!«
Sie erschrak. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, war er laut geworden. Dabei hatte er mit den Armen eine spastische Bewegung vollführt, als hätte er einen Stromstoß bekommen. Plötzlich hatte sie Angst vor ihm. Auch das war neu. Sie hatte sich nie sonderlich wohl bei ihm gefühlt, aber Angst hatte sie nie gehabt.
Langsam stand sie auf. Er verschob seinen Stuhl ein Stück und sagte, ohne aufzusehen, als spräche er zu sich selber: »Zeit. Ich brauche Zeit. Das ist alles.«
Sie hatte eigentlich den Raum wortlos verlassen wollen, aber jetzt lag ihr doch noch eine Frage auf dem Herzen, obwohl sie wusste, dass es naiv von ihr war.
»Was für eine Chance haben sie, prozentual gesehen?«
»Ich berechne keine Wahrscheinlichkeiten. Ich gehe von einer positiven Entwicklung aus. Das habe ich immer getan.«
Halb betäubt kehrte sie ins Klassenzimmer zurück. Dort hielt sie sich tapfer, obwohl sie jedes Mal, wenn sie einen der Jungen ansah, das Gefühl hatte, durch dessen Augen hindurch bereits den Tod sehen zu können.
Erst zu Hause brach sie zusammen. Zunächst wollte sie Hannah anrufen, sie um Rat und Unterstützung bitten, ließ es aber schließlich bleiben. Am besten, sie behielt das Ganze erst mal für sich. Wenn sie mit jemandem darüber spräche, würde alles so definitiv, und dann wäre jede Hoffnung auf eine mögliche Genesung dahin. Wenn sie das Kreuz alleine nicht mehr zu tragen vermochte, konnte sie immer noch darüber sprechen. Sie nahm sich vor, es den Kindern so schön wie möglich zu machen. Schon zwei Wochen später würde es dafür einen guten Anlass geben, ihren vierten Geburtstag. Und danach? Das würde man sehen.
9
Die meisten Einwohner Wolfheims, die selbst kleine Kinder hatten, zeigten Verständnis für die weitreichende Maßnahme, die der Doktor am Morgen nach der Geburtstagsfeier seiner Söhne ergriffen hatte. Einige ältere Dorfbewohner verwiesen, wenn auch in vagen Umschreibungen, auf den Tod von Doktor Hoppes Vater und sagten, der Unfall seines eigenen Sohnes habe ihm endlich ein Alibi verschafft, definitiv die Spuren zu beseitigen. Andere bezweifelten dies, waren sich jedoch einig darüber, dass der Beschluss des Doktors nur noch mehr Unheil bringen würde. Was diesem Beschluss vorangegangen war, darüber existierten verschiedene Aussagen, die zusammen den reinsten Flickenteppich ergaben.
Boris Croiset, der wegen eines verrenkten Knöchels mit dem Auto gebracht wurde, tauchte an jenem 29. September 1988 als erster bei der Geburtstagsfeier auf. Er gehörte zu den fünf Glücklichen, die ein paar Tage zuvor zum allgemeinen Erstaunen eine Einladung der Hoppe-Brüder im Briefkasten vorgefunden hatten. Der sechsjährige Olaf Zweste aus der Kirchstraße und sein gleichaltriger Nachbarsjunge Reinhart Schoonbrodt durften auch kommen, genauso wie die fünf Jahre alten Zwillingsbrüder Michel und Marcel Moresnet, die unter den Stammgästen im »Terminus« mit sichtbarem Stolz die Einladung herumgezeigt hatten.
Frau Maenhout hatte Boris in die Küche geführt, wo die Söhne des Doktors mit Kronen aus Goldpapier auf den Köpfen dasaßen und alle drei in irgendwelche Bücher vertieft waren. Die mussten sie nun zuklappen und weglegen, was sie nur mit deutlichem Widerwillen taten.
»Es waren voll die dicken Schinken«, erzählte Boris später und deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Umfang von etwa fünf Zentimetern an. Da er selbst noch nicht richtig lesen konnte, war er nicht in der Lage, Titel zu nennen, wohl aber hatte er auf einem
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