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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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zu der hinteren Tür gelaufen und hielt sie auf.
    »Setzen Sie sich ruhig mit den Kindern nach hinten. Das scheint mir das Beste.«
    Als sie an ihm vorbeiging, sah sie ihm kurz direkt in die Augen.
    »Danke«, sagte sie, »ich danke Ihnen sehr.«
    Ihre Augen hatten etwas sehr Sanftes. Plötzlich wirkte sie viel netter.
    »Keine Ursache«, antwortete er. Er wollte auch noch irgendetwas zu den Kindern sagen, aber ihm fiel nichts ein.
    Nachdem die Frau mit den Jungen auf der Rückbank Platz genommen hatte, stieg auch der Turmwärter ein.
    »Herr Glück, vielen Dank und bis bald!«, rief er und winkte aus dem Fenster.
    »Bis bald!«, antwortete Glück, aber seine Stimme ging in dem enormen Lärm des Autos unter. Das geht nicht mehr lange gut, dachte er, während sich der Simca ruckartig in Bewegung setzte.
    Fünf Minuten später sah die vor dem »Terminus« versammelte Menschenmenge, wie das Auto ins Dorf zurückkehrte.
    »Da ist mein Mann«, rief Frau Reisiger und winkte ihm zu.
    Schon von weitem streckte er den Arm aus dem Fenster und hielt den Daumen in die Luft.
    »Gott sei Dank, es ist gut ausgegangen«, sagte sie erleichtert.
    Das Auto fuhr langsam an der Gruppe vorbei, und Otto Reisiger signalisierte mit den Händen, dass er seine Passagiere beim Haus des Doktors absetzen würde. Aber die Dorfbewohner hatten lediglich Augen für die Fahrgäste auf der Rückbank.
    »Siehst du wohl?«, sagte irgendjemand, und damit war die Tonart für den ganzen Chor vorgegeben.

11
    Sie hatte alles vermasselt. Zu diesem Schluss war Frau Maenhout bereits in Otto Reisigers Wagen gekommen. Sie hatte nicht nur sich selbst in eine missliche Lage gebracht, sondern den Kindern auch noch eine Enttäuschung bereitet. Die hatten kein Wort mehr gesagt, auch nicht, als sie wieder zu Hause waren. Alle drei waren sie völlig erschöpft gewesen, und so hatte sie sie sofort ins Bett gebracht. Dann hatte sie sich in der Küche an den Tisch gesetzt und ihren Gefühlen, die sie so lange Zeit hinuntergeschluckt hatte, freien Lauf gelassen. Sie war kaum noch zum Nachdenken in der Lage gewesen. Lediglich die Frage, wie sie hatte so dumm sein können, wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.
    Erst nach einer Stunde war sie wieder halbwegs zur Ruhe gekommen, und als Erstes hatte sie sich gefragt, wie es nun weitergehen sollte. Sie hatte ihre eigene Position geschwächt. Wie sollte sie Doktor Hoppe die Verwahrlosung oder Misshandlung seiner Kinder vorwerfen, wenn man ihr selbst einen bedenklichen Mangel an Verantwortungsgefühl vorhalten konnte? Der Doktor würde die Gelegenheit ergreifen, alle Schuld ihr in die Schuhe zu schieben. Dringender denn je musste sie nun nach Beweisen für seine bösartigen Absichten suchen. Erst dann konnte sie weitere Schritte unternehmen.
    Also hatte sie sich auf die Suche gemacht. Vielleicht hatte sie noch den ganzen Tag Zeit, vielleicht auch nicht. Der Mut der Verzweiflung hatte sie angetrieben, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie suchen sollte und wonach eigentlich.
    Sie fing im Sprechzimmer an. Sie hatte erwartet, alles verschlossen vorzufinden, aber dem war nicht so. Als sie eine der Schubladen herauszog, entfalteten die Patientenakten sich vor ihren Augen wie ein Akkordeon. Dennoch hatte sie lediglich unter dem Buchstaben H gesucht, damit man ihr später über das Unvermeidliche hinaus nichts vorzuwerfen hätte. Das H hatte sie zwar nicht weitergebracht, aber wenn sie auch sonst nirgendwo etwas fand, konnte sie später immer noch die anderen Dossiers durchblättern.
    In anderen Schubladen hatte sie lediglich Arzt-Material gefunden: Scheren, Pinzetten, Nadeln, Verbände, Watte, Gummihandschuhe. Handschuhe! Plötzlich wurde ihr klar, dass sie überall Fingerabdrücke hinterließ. Sofort fühlte sie sich noch mehr als Einbrecherin. Aber sie hatte einen guten Grund für ihr Tun, ja drei gute Gründe, die jetzt oben friedlich schliefen. Daraus schöpfte sie die Kraft und vor allem den Mut, weiter zu suchen. Und deshalb wurde sie schließlich fündig.
    In einem der Schränke stand eine Reihe Fotoalben. Sie hatte gehofft, darin Fotos zu finden, die etwas Licht in die Vergangenheit des Doktors brachten. Fotos, die ihn als Kind oder Jugendlichen zeigten, Fotos von seiner Mutter und seinem Vater, der ebenfalls Hausarzt gewesen war, vielleicht sogar Fotos von seiner Frau. Wer war sie? Was war sie für ein Mensch? Sie hatte sich das oft gefragt, vor allem, weil sie sicher war, dass auch die Kinder eines Tages nach ihr fragen

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