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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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bezeichnet, wo er offensichtlich zu Beginn der 80er Jahre irgendwelche besonderen Experimente mit Embryos durchgeführt hatte. Die Autoren waren des Lobes voll für den Doktor, oft bejubelten sie ihn geradezu. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt schlug der Tenor der Artikel um. Das merkte sie schon am Vokabular: »investigation«, »falsification«, »fraud«, »chaos« standen da. Die Worte schockierten sie. Vor allem die letzten beiden. Betrug und Chaos.
    Schließlich fand sie in der auf dem Stapel zuunterst liegenden Zeitschrift, einer Ausgabe von Nature, noch einen kleinen Artikel über ihn. Allein schon der Titel sprach Bände: »University of Aachen: Victor Hoppe resigns«. Résigner, das bedeutete »ein Amt niederlegen, eine Stellung aufgeben« oder »verzichten«. Gemeint war offenbar Ersteres. Das hatte sie gleich gewusst, nachdem sie den Artikel überflogen hatte und dabei wieder, schon wieder diesen beiden Wörtern begegnet war: Betrug und Chaos.
    Wieder verspürte sie ein Frösteln, und beim Blick auf das Datum der Zeitschrift stockte ihr der Atem: 3. Juli 1984. Drei Monate vor der Geburt von Michael, Gabriel und Raphael. Drei Monate, bevor der Doktor nach Wolfheim zurückgekehrt war.
    In einem Reflex riss sie den Artikel heraus.
    Betrug und Chaos. Chaos und Betrug. Sie sprach die Worte immer wieder vor sich hin, auf der Suche nach einem Zusammenhang. Vor allem das Wort Betrug stimmte sie nachdenklich, in gewisser Weise beruhigte es sie aber auch. Es bedeutete schließlich, dass der Doktor sich auf die eine oder andere Weise schon einmal des falschen Spiels schuldig gemacht hatte. Dass er den Leuten Unwahrheiten vorgespiegelt hatte. Das war schon einmal etwas.
    Und dann kamen ihr auch wieder andere Dinge in den Sinn, die er gesagt hatte. Wie hatte er sich noch gleich ausgedrückt? Als sie ihn auf die Wunde an Gabriels Rücken angesprochen hatte? Sie hatte gesagt: »Ich glaube Ihnen nicht.« Oder: »Ich glaube Ihnen nicht mehr.«
    Zweifeln Sie nun auch schon an mir?
    Irgend so etwas hatte er gesagt. Sie nun auch schon. Sie war also nicht die Einzige.
    Sie hatte eine Spur. Mehr bislang nicht, aber es war immerhin schon mehr, als sie erwartet hatte. Sie konnte dieser Sache weiter nachgehen. Sie würde den Artikel übersetzen lassen. Sie würde Kontakt aufnehmen mit der Universität Aachen. Das alles nahm sie sich vor. Dabei würde sie nicht überstürzt zu Werke gehen. Auch das beschloss sie. Sie konnte sich keine Fehler erlauben. Noch am selben Abend, wenn sie wieder zu Hause war, würde sie anfangen. Und dann hatte sie noch den ganzen Sonntag über Zeit. Erst Montagmorgen, wenn die ersten Patienten kämen und dem Doktor erzählen würden, was sich auf dem Dreiländereck zugetragen hatte, würde sie ihm Rede und Antwort stehen müssen. Aber bis dahin wäre sie schon viel weiter. Und falls nicht, war es auch nicht so schlimm. Alles in allem kam es inzwischen nicht mehr so darauf an, ob der Doktor sie nun entlassen würde oder nicht.
    Doktor Hoppe kehrte an jenem Samstagnachmittag um halb sechs nach Hause zurück. Frau Maenhout befand sich zu diesem Zeitpunkt mit Michael, Gabriel und Raphael im Klassenzimmer. Nachdem die Kleinen gegen zwei Uhr wach geworden waren und etwas gegessen hatten, war sie mit ihnen nach oben gegangen, hatte aber keinen Unterricht gegeben. Die Kinder waren mit ihren Gedanken woanders gewesen, und sie selbst hatte sich auch nicht konzentrieren können. Also hatte sie ihnen bloß etwas vorgelesen, nämlich die Geschichte von David und Goliath aus der Kinderbibel. Darüber, wie ein armer Hirtenjunge einen Riesen niedergestreckt hatte.
    »Was man nicht in den Armen hat, muss man im Kopf haben«, hatte sie am Ende der Geschichte gesagt. Dann hatte sie die Kinder eine Zeichnung dazu anfertigen lassen.
    »Wie groß war der Riese genau?«, hatte Gabriel wissen wollen.
    »Drei Meter. Noch größer als so …« Sie hatte ihre Hand so hoch wie möglich gehalten.
    »Das krieg ich nicht auf mein Blatt drauf.«
    »Dann musst du ihn kleiner zeichnen. Alles muss im Verhältnis kleiner werden als in echt.«
    Das war ihnen nicht leicht gefallen. Was in ihren Köpfen groß und lebensecht war, konnten sie nicht ohne weiteres in etwas Kleines und Flaches verwandeln. Und irgendwie gelang es ihr nicht, es ihnen beizubringen. Sie konnten sich unter Dingen, die nicht wirklich waren, nichts vorstellen.
    Sie hatte erst David an die Tafel gezeichnet, daneben dann den Riesen, viermal so groß.
    »Aber das ist doch

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