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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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er, ohne sich umzusehen. »Bald wird der Turm nämlich abgerissen, dann kommt hier ein neuer her.«
    Frau Maenhout antwortete nicht.
    »Fünfzig Meter hoch«, erzählte er stolz, »mit Fahrstuhl!«
    Sie schien nicht zu registrieren, was er sagte. Sie hat natürlich einzig und allein Augen für den kleinen Jungen, dachte er. Die drei waren bestimmt die Kinder vom Doktor, sie mussten es sein. Er sah kurz über die Schulter nach unten. Die anderen beiden hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und folgten ihm mit den Blicken. Nur ein einziges Mal hatte er die Drillinge bislang gesehen, als er nämlich unangemeldet bei Doktor Hoppe geklingelt hatte, weil er plötzlich Stiche im Herzen verspürt hatte. Die Kinder hatten am Schreibtisch im Sprechzimmer gesessen und ihn neugierig gemustert, genau wie er sie. Hinterher hatte er den Doktor noch dazu eingeladen, doch mit den Kindern mal beim Dreiländereck vorbeizukommen, aber bisher war dieser der Einladung nicht gefolgt.
    Der Junge klammerte sich verkrampft an die Stäbe des Treppengeländers. Der Turmwärter bückte sich, um nach den mageren Armen zu greifen, aber noch bevor er das Kind berührt hatte, rief der Kleine: »Fass mich nicht an! Fass mich nicht an!«
    Die dünne Stimme ging ihm durch Mark und Bein. Otto Reisiger tat erschrocken einen Schritt zurück und stieß mit Frau Maenhout zusammen. Er hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest und streifte mit der anderen Hand versehentlich den Hut des Kindes, sodass der verrutschte. Was er nun sah, räumte die letzten Zweifel aus dem Weg: ein großer, kahler Schädel, überzogen von einem Gewirr tintenblauer Adern.
    »Sieh an, es ist doch einer von den kleinen Hoppes! Wusst ich’s doch!«, rief er aus. Er drehte sich um und wies mit dem Daumen auf das Kind.
    Frau Maenhout wandte schnell den Blick ab.
    »Lassen Sie mich mal gerade«, sagte sie dann und wandte sich dem Kleinen zu, indem sie tröstend auf ihn einzureden begann. Ein paar Mal hörte der Turmwärter den Namen Michael.
    Von unten beobachtete Felix Glück, wie Frau Maenhout den Jungen zu guter Letzt hochhob. Sie wollte ihm den Hut wieder aufsetzen, aber er schlug ihre Hand weg und rief laut: »Nein, nein, ich bin kein Musketier mehr!« Und dann zog er sich mit der anderen Hand die Maske vom Gesicht.
    Als hätte er damit ein Zeichen gegeben, taten seine Brüder es ihm noch im selben Augenblick nach: Mit schnellen Handbewegungen schlugen sie sich die Mützen vom Kopf und nahmen ihre Masken ab.
    Der Werkstattmeister zwinkerte mit den Augen, starrte die Gesichter der Kinder an und merkte, dass ihm vor Verwunderung der Kiefer heruntergeklappt war.
    »Sie hatten die Gestalt kleiner Kinder, aber im Gesicht sahen sie aus wie alte Männer«, sollte er später seinen Kunden in der Werkstatt erzählen. »Sie waren krank. Schwer krank. Das sah man auf Anhieb.«
    Als Frau Maenhout unten angekommen war, versuchte Glück herauszubekommen, ob das Kind, das sie auf dem Arm hatte, genauso aussah wie die beiden anderen, aber der Kleine vergrub sein Gesicht in ihrem großen Busen.
    »Schaut mal, was ich gefunden habe!«, rief da der Turmwärter. Er stand mit rot angelaufenem Kopf hinter dem Zaun und hielt ein drittes Schwert hoch, das in zwei Teile zerbrochen war. Er kreuzte die beiden Holzstücke in der Luft und sagte lachend: »Ein paar Nägel, ein bisschen Holzleim, und fertig! Dann könnt ihr wieder spielen!«
    Aber die Kinder kümmerten sich überhaupt nicht um ihn. Reisiger zuckte mit den Schultern, klemmte sich das kaputte Schwert unter den Arm und sperrte das Gatter wieder ab.
    »Soll ich Sie zum Doktorhaus zurückbringen, Frau Maenhout?«, fragte er.
    Sie starrte abwesend ins Leere, es dauerte einen Moment, bis sie ihn ansah und den Kopf schüttelte.
    »Nein, nein, das ist wirklich nicht nötig.«
    »Ich bestehe darauf, Frau Maenhout«, beharrte der Turmwärter. »Der Herr Doktor wird es mir bestimmt übelnehmen, wenn er hört, dass ich Sie einfach hier zurückgelassen habe. Und die Jungs wollen bestimmt auch lieber im Auto zurückfahren als laufen, oder?«
    Sie beachteten ihn nicht. Felix Glück starrte die Kinder an. Marsmännchen, dachte er, sie sehen aus wie Marsmännchen, nur dass sie nicht grün im Gesicht sind. Er hörte die Frau tief durchatmen. Dann nickte sie.
    Reisiger lächelte. »Das ist eine weise Entscheidung, Frau Maenhout.«
    Er lief zu seinem Auto, öffnete den Kofferraum und legte das kaputte Schwert hinein. Werkstattmeister Glück war inzwischen

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