Der Engelmacher
Sprechzimmer zurückgegangen. Da musste noch mehr sein. Diesmal fiel ihr Blick sofort auf die Tür, die zum Labor führte. Dahinter hatte er die Kinder immer isoliert, wenn sie krank gewesen waren. In dem sterilen Raum.
Auch diese Tür war nicht abgeschlossen. Das enttäuschte sie irgendwie, denn dadurch schätzte sie die Möglichkeit, dass er dort etwas versteckt hielt, schon wieder geringer ein.
Sie war hier nicht oft gewesen. Er hatte diesen Raum immer selbst sauber gemacht, und die paar Male, die sie kurz drinnen gewesen war, hatte sie feststellen können, dass er es mit enormer Sorgfalt tat. Kein Staub, kein Krempel, keine Unordnung. Und doch war es diesmal anders. Sämtliche Gläser, Dosen, Schälchen, auch die Geräte, die Mikroskope und Monitore, standen da wie nie benutzt. Bisher hatte sie immer irgendwo etwas blubbern oder dampfen sehen, und auf den Tischen sowie in den Schränken hatten verschiedene Schälchen und Reagenzgläser mit flüssigen Substanzen gestanden. Aber diesmal nicht. Als wäre der Raum gerade erst ganz neu eingerichtet worden und warte nun darauf, in Gebrauch genommen zu werden. Das war ihr erster Eindruck. Aber schon bald kam ihr noch eine andere Vermutung: dass er seine Spuren beseitigt hatte. Dass er alles aufgeräumt und weggeworfen oder vernichtet hatte.
Sie öffnete ein paar Schubladen und Schränke, um eine Bestätigung für ihre Vermutung zu finden. In den Schubladen fand sie vor allem Materialvorräte, zum großen Teil noch originalverpackt – Pipetten, Injektionsnadeln, Scheren –, und in den Schränken leere Schälchen und Reagenzgläser sowie ungeöffnete Flaschen mit verschiedenen Flüssigkeiten oder Pulvern.
Sie war zu spät gekommen. Das war die Schlussfolgerung, die sie zu ihrer Enttäuschung ziehen musste.
Dennoch hatte sie erneut bei den Patientenakten suchen wollen, aber erst ging sie noch einmal zu dem Regal mit den Fotoalben. Sie hatte ihren Widerwillen überwunden und alle zwölf Alben komplett durchgesehen, von vorn bis hinten, wenn auch flüchtig und schnell. Und obwohl sie schon gewusst hatte, was sie zu sehen bekommen würde, musste sie ständig schlucken. Sie hatte gehofft, dass vielleicht irgendwo ein aufschlussreiches Foto oder eine Notiz oder was auch immer zwischen die Seiten gefallen war, aber nein, nichts dergleichen. Als sie die letzte Seite des letzten Albums umschlug, kam es ihr vor, als wäre damit auch das Leben der drei Kinder für immer abgeschlossen.
In diesem Moment gab sie auf. Sie hatte nicht mehr genug Mut und Kraft, weiterzusuchen. Sie wollte den Rest der Zeit bei Michael, Gabriel und Raphael verbringen. Sie würde schon sehen, was geschah, wenn der Doktor wieder zu Hause war. Sie würde es schon sehen.
Sie hatte gerade das letzte Album wieder ins Regal gestellt, als ihr Blick auf den Stapel Zeitschriften fiel, der auf einem anderen Regalbrett lag. Es waren lauter englischsprachige wissenschaftliche Zeitschriften mit Titeln wie Nature, Cell und Differentiation. Sie hob ein paar davon hoch, hielt sie am Rücken fest und schüttelte sie in der Hoffnung, dass vielleicht zwischen den Seiten irgendetwas herausfallen würde. Aber auch dieser letzte verzweifelte Versuch brachte nichts.
Bis sie die Zeitschriften wieder zurücklegte. Dabei fiel ihr Blick auf ein Porträtfoto, das sich auf der Titelseite einer Ausgabe von Differentiation befand. An den roten Haaren und dem Schnurrbart, der seine Hasenscharte verbarg, erkannte sie ihn auf Anhieb. Einen Kinnbart hatte er damals noch nicht. Unter dem Foto stand ein Satz, bei dem ein Wort ihr gleich besonders auffiel: »experimental«. Sie schlug den Artikel in der Zeitschrift auf. Der Doktor selbst hatte ihn geschrieben, »Dr. Victor Hoppe« stand über dem Titel, der da lautete: »Experimental genetics of the mammalian embryo«.
»Mammalian«, murmelte sie laut vor sich hin und musste an das französische Wort »mammalien« denken. Von einem Säugetier also. »Genetische Experimente mit Embryos von Säugetieren«, das bedeutete es. Sie fröstelte, als sie das Erscheinungsdatum der Zeitschrift sah: März 1982.
Mit zunehmendem Staunen blätterte sie daraufhin weitere Zeitschriften durch. Überall tauchte irgendwo der Name und manchmal auch ein Bild des Doktors auf. Immer dasselbe Bild, ein ganz normales Passfoto. Einige der Artikel hatte der Doktor selber geschrieben, aber die meisten schienen andere über ihn geschrieben zu haben. Er wurde als »famous embryologist« an der Universität Aachen
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